Deutschland 2.0
berüchtigte A2, die inzwischen in langen Teilen vierspurig
zwischen Berlin und Hannover ausgebaut wurde. Und das sind nur die wichtigsten Beispiele für Schienen und Autobahnverbindungen.
Wer heute Städte wie Eisenach, Weimar, Erfurt, Jena, Leipzig oder Dresden besucht und sie mit ihrem spätsozialistischen Erscheinungsbild
vergleicht, müsste eigentlich vor Ehrfurcht in die Knie gehen. Unzählige Baudenkmäler wurden durch die deutsche Einheit vor
dem sicheren Zerfall gerettet. Dasselbe gilt für das Chemiedreieck von Bitterfeld, wo praktisch eine ganze Region zurück ins
blühende Leben geholt worden ist. Die nördlich von Leipzig gelegene Gegend galt in der DDR als Hölle auf Erden. »In Bitterfeld
hat man das Leben mit der Chemie geerbt wie die Augenfarbe«, schreibt die ostdeutsche Schriftstellerin Monika Maron in ihrem
2009 veröffentlichten Buch ›Bitterfelder Bogen‹.
Als die DDR ihren Geist aufgab, »war Bitterfeld zu einem Synonym für marode Wirtschaft, vergiftete Luft und verseuchten Boden
geworden, zu einem Sinnbild des ruinierten Landes«, schreibt sie weiter. »Man musste nur einmal im ewig diesigen Himmel über
Bitterfeld nach der Sonne gesucht haben oder einmal unter den Rohrleitungen im Werk herumgelaufen sein, hoffend, es möge Wasser
und nicht Säure sein, was einem da auf den Kopf tropfte, man musste nur einmal in Bitterfeld gewesen sein, um zu wissen, dass
dort zu leben lebensgefährlich war.«
Von den 17 000 Arbeitern, die beim Chemiekombinat Bitterfeld arbeiteten, waren ständig etwa 7000 bis 8000 Menschen damit beschäftigt, die marode Anstalt überhaupt in Gang zu halten. Nach dem Krieg hatten die Amerikaner zunächst
Bitterfeld besetzt. Bei ihrem Abzug Ende Juni 1945 wurde mitgenommen,was nicht niet- und nagelfest war. Die Leitung der IG Farben und ihre Familien setzten sich nach Frankfurt am Main ab. Mit
ihnen rollten 45 Waggons, »beladen mit Chemikalien wie Chlorat, Chromat, Pottasche, Natron- und Kalilauge«, heißt es in einer Bitterfelder
Geschichtschronik, die kurz nach der Wende entstand. Mit den Amerikanern gingen auch viele Spezialisten und Chemiker – »sowie
192 Aktenbände über Produktionsverfahren« gen Westen.
Anschließend demontierten die Russen sechzig Prozent der Bitterfelder und fünfzig der Wolfener Anlagen. Sie übernahmen 1947
den Betrieb und kassierten aus der laufenden Produktion Reparationszahlungen. Mit dem, was an Produktionsmitteln und Chemieanlagen
übrig blieb, produzierten die volkseigenen Betriebe in Bitterfeld und Wolfen unter anderem Schädlingsbekämpfungsmittel, Speisewürze,
Weichspüler, Desinfektionsmittel und Flüssigseife. Der Fallout war gewaltig.
Einige ostdeutsche Verwandte aus meiner Familie haben zu DD R-Zeiten in der Nähe von Bitterfeld gelebt. Wenn sie vor dem Haus weiße Wäsche zum Trocknen aufhängten, wurde sie anschließend grau
wieder zusammengelegt. Das lag an den 180 Tonnen Flugasche, die aus den Schornsteinen der Chemiebetriebe täglich in die Region gepestet wurden.
Heute gehören weiße Pullover zu den Verkaufsschlagern in der Region, wie Monika Maron herausgefunden hat. Knapp dreißig Jahre
nach der (westdeutschen) Veröffentlichung ihres berühmten DD R-Romans ›Flugasche‹, in dem erstmals die massive Umweltverschmutzung des Bitterfelder Chemiedreiecks thematisiert wurde, kehrte die
ehemalige DD R-Schriftstellerin in die berüchtigte Industriezone zurück. »Ich hatte ein Bild im Kopf, ein schwarzes, verrußtes, rostfarbenes, dreißig Jahre
altes Bild«, schreibt sie – doch was sie zwanzig Jahre nach dem Mauerfall vorfand, sah plötzlich ganz anders aus. Während
in den siebziger Jahren von den Chemiebetrieben in Bitterfeld und Wolfen täglichUnmengen von Flugasche über die Region gestreut wurden, breitete sich nun eine riesige Solarfabrik in der Gegend aus. Die
verseuchten Böden waren nach der Wende von ehemaligen Chemiearbeitern saniert worden. Allein von 1989 bis 1992 verringerte
sich die Luftverschmutzung um sagenhafte 92 Prozent. »Vielleicht kennen ja sogar die Ostdeutschen ihre eigenen Erfolgsgeschichten zu wenig, um stolz auf sie und sich
selbst zu sein«, kommentierte Maron ihr Buch, in dem sie nichts weniger erzählt als die Wiederauferstehung einer Region, die
jahrzehntelang näher am Tod als am Leben gebaut war.
Den Erfolg im Osten muss man also manchmal suchen, aber er ist schon lange da. Heute fahre ich am Wochenende
Weitere Kostenlose Bücher