Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Deutschland 2.0

Titel: Deutschland 2.0 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claus Christian Malzahn
Vom Netzwerk:
berüchtigte A2, die inzwischen in langen Teilen vierspurig
     zwischen Berlin und Hannover ausgebaut wurde. Und das sind nur die wichtigsten Beispiele für Schienen und Autobahnverbindungen.
     
    Wer heute Städte wie Eisenach, Weimar, Erfurt, Jena, Leipzig oder Dresden besucht und sie mit ihrem spätsozialistischen Erscheinungsbild
     vergleicht, müsste eigentlich vor Ehrfurcht in die Knie gehen. Unzählige Baudenkmäler wurden durch die deutsche Einheit vor
     dem sicheren Zerfall gerettet. Dasselbe gilt für das Chemiedreieck von Bitterfeld, wo praktisch eine ganze Region zurück ins
     blühende Leben geholt worden ist. Die nördlich von Leipzig gelegene Gegend galt in der DDR als Hölle auf Erden. »In Bitterfeld
     hat man das Leben mit der Chemie geerbt wie die Augenfarbe«, schreibt die ostdeutsche Schriftstellerin Monika Maron in ihrem
     2009 veröffentlichten Buch ›Bitterfelder Bogen‹.
    Als die DDR ihren Geist aufgab, »war Bitterfeld zu einem Synonym für marode Wirtschaft, vergiftete Luft und verseuchten Boden
     geworden, zu einem Sinnbild des ruinierten Landes«, schreibt sie weiter. »Man musste nur einmal im ewig diesigen Himmel über
     Bitterfeld nach der Sonne gesucht haben oder einmal unter den Rohrleitungen im Werk herumgelaufen sein, hoffend, es möge Wasser
     und nicht Säure sein, was einem da auf den Kopf tropfte, man musste nur einmal in Bitterfeld gewesen sein, um zu wissen, dass
     dort zu leben lebensgefährlich war.«
    Von den 17   000   Arbeitern, die beim Chemiekombinat Bitterfeld arbeiteten, waren ständig etwa 7000 bis 8000   Menschen damit beschäftigt, die marode Anstalt überhaupt in Gang zu halten. Nach dem Krieg hatten die Amerikaner zunächst
     Bitterfeld besetzt. Bei ihrem Abzug Ende Juni 1945 wurde mitgenommen,was nicht niet- und nagelfest war. Die Leitung der IG Farben und ihre Familien setzten sich nach Frankfurt am Main ab. Mit
     ihnen rollten 45   Waggons, »beladen mit Chemikalien wie Chlorat, Chromat, Pottasche, Natron- und Kalilauge«, heißt es in einer Bitterfelder
     Geschichtschronik, die kurz nach der Wende entstand. Mit den Amerikanern gingen auch viele Spezialisten und Chemiker – »sowie
     192   Aktenbände über Produktionsverfahren« gen Westen.
    Anschließend demontierten die Russen sechzig Prozent der Bitterfelder und fünfzig der Wolfener Anlagen. Sie übernahmen 1947
     den Betrieb und kassierten aus der laufenden Produktion Reparationszahlungen. Mit dem, was an Produktionsmitteln und Chemieanlagen
     übrig blieb, produzierten die volkseigenen Betriebe in Bitterfeld und Wolfen unter anderem Schädlingsbekämpfungsmittel, Speisewürze,
     Weichspüler, Desinfektionsmittel und Flüssigseife. Der Fallout war gewaltig.
    Einige ostdeutsche Verwandte aus meiner Familie haben zu DD R-Zeiten in der Nähe von Bitterfeld gelebt. Wenn sie vor dem Haus weiße Wäsche zum Trocknen aufhängten, wurde sie anschließend grau
     wieder zusammengelegt. Das lag an den 180   Tonnen Flugasche, die aus den Schornsteinen der Chemiebetriebe täglich in die Region gepestet wurden.
    Heute gehören weiße Pullover zu den Verkaufsschlagern in der Region, wie Monika Maron herausgefunden hat. Knapp dreißig Jahre
     nach der (westdeutschen) Veröffentlichung ihres berühmten DD R-Romans ›Flugasche‹, in dem erstmals die massive Umweltverschmutzung des Bitterfelder Chemiedreiecks thematisiert wurde, kehrte die
     ehemalige DD R-Schriftstellerin in die berüchtigte Industriezone zurück. »Ich hatte ein Bild im Kopf, ein schwarzes, verrußtes, rostfarbenes, dreißig Jahre
     altes Bild«, schreibt sie – doch was sie zwanzig Jahre nach dem Mauerfall vorfand, sah plötzlich ganz anders aus. Während
     in den siebziger Jahren von den Chemiebetrieben in Bitterfeld und Wolfen täglichUnmengen von Flugasche über die Region gestreut wurden, breitete sich nun eine riesige Solarfabrik in der Gegend aus. Die
     verseuchten Böden waren nach der Wende von ehemaligen Chemiearbeitern saniert worden. Allein von 1989 bis 1992 verringerte
     sich die Luftverschmutzung um sagenhafte 92   Prozent. »Vielleicht kennen ja sogar die Ostdeutschen ihre eigenen Erfolgsgeschichten zu wenig, um stolz auf sie und sich
     selbst zu sein«, kommentierte Maron ihr Buch, in dem sie nichts weniger erzählt als die Wiederauferstehung einer Region, die
     jahrzehntelang näher am Tod als am Leben gebaut war.
    Den Erfolg im Osten muss man also manchmal suchen, aber er ist schon lange da. Heute fahre ich am Wochenende

Weitere Kostenlose Bücher