Deutschland misshandelt seine Kinder (German Edition)
unterstützen wir die Klinikärzte bei der Entscheidung, ob im konkreten Fall die Ermittlungsbehörden informiert werden sollen. Dem Jugendamt muss die Klinik bei Verdacht auf Kindesmisshandlung ohnehin Meldung erstatten. Doch vor dem logischen nächsten Schritt, einer Meldung bei der Polizei, schrecken die Klinikärzte häufig zurück.
Generell ziehen die Fachkräfte in Kliniken und sozialmedizinischen Einrichtungen das Konzept »Hilfe statt Strafe« vor. Die Ärzte und Sozialarbeiter befürchten, dass die Eltern nicht mehr mit ihnen zusammenarbeiten, wenn sie die Polizei einschalten. Polizisten auf der Kinderstation mögen aus Sicht der Klinikleitung auch für das Image der Einrichtung nicht unbedingt förderlich sein. Und niedergelassene Kinder- und Jugendärzte treibt mitunter die Sorge um, ihre Patienten zu verlieren, wenn sich herumsprechen würde, dass sie Eltern bei Verdacht auf Kindesmisshandlung bei der Polizei anzeigen.
So nachvollziehbar diese Bedenken im Einzelnen sein mögen, aus unserer Sicht wiegen die Argumente
für
die Einschaltung der Polizei weitaus schwerer:
Die Ärzte können das misshandelte Kind nicht schützen:
Wenn sie es nach erfolgter Behandlung den Eltern einfach wieder mit nach Hause geben, wird dort die (meist chronische) Misshandlung mit hoher Wahrscheinlichkeit fortgesetzt – mit möglicherweise tödlichen Konsequenzen für das Kind.
Ohne Strafanzeige kein Anspruch auf Entschädigung:
Oftmals sind misshandelte Kinder für ihr Leben schwerstbehindert. Unterstützungsgelder gemäß Opferentschädigungsgesetz können sie aber nur dann erhalten, wenn zeitnah nach der Tat eine Strafanzeige erstattet worden ist (siehe Kapitel 9 ).
Aus rechtsmedizinischer Sicht ist die Einschaltung der Polizei noch aus einem weiteren Grund ratsam: Unsere Begutachtungskosten kann die Klinik nur mit dem Berliner Jugendamt (das hierfür meist nur ein schmales Budget hat) oder mit dem Landeskriminalamt Berlin abrechnen. Auch dafür muss eine Strafanzeige vorliegen, denn nur dann nimmt die Polizei die Ermittlungen auf. Besser sieht es in dieser Hinsicht in etlichen anderen Bundesländern aus, etwa in Niedersachsen, Rheinland-Pfalz oder Hamburg: Dort übernehmen Landesministerien oder die Regierung die Kosten für die rechtsmedizinische Begutachtung von Misshandlungsopfern, teilweise gibt es auch Unterstützung durch Stiftungen wie »Ein Herz für Kinder«.
Unser Gutachten stellen wir den Ermittlungsbehörden zur Verfügung und vertreten es im Fall einer Gerichtsverhandlung. Dort aber stoßen wir noch heute oftmals auf ähnliche Reaktionen wie die rechtsmedizinischen Pioniere vor 150 Jahren: auf Verleugnung und Tabuisierung.
»So etwas machen Eltern doch nicht!«
Die Geschichte der Kindesmisshandlung ist in weiten Teilen durch Verdrängung und Totschweigen geprägt. Väter, die ihre Kinder mit dem nackten Gesäß auf die Herdplatte setzen – mit voller Absicht? Mütter, die ihre Kinder in brühend heißes Badewasser legen und dort fixieren – nicht versehentlich, sondern »zur Strafe«? »So etwas machen Eltern nicht«, ist vielfach bis heute die Reaktion von Kinderärzten, professionellen »Kinderschützern«, von Polizisten, Staatsanwälten und Familienrichtern.
Doch Kindesmisshandlung geschah und geschieht in zigtausenden Familien, in der Mitte unserer Gesellschaft, quasi vor aller Augen. Desto angestrengter wurde und wird weggeschaut und totgeschwiegen, gleichfalls zigtausendfach. Die Omertà, die Schweigepflicht der Mafia-Angehörigen, ist im Vergleich zu diesem kollektiven Verleugnen ein Aufruf zur Geschwätzigkeit.
Rechtsmediziner waren über einen langen Zeitraum fast die Einzigen, die bei der Verschwörung der großen gegen die kleinen Bürger nicht mitspielen wollten. Vereinzelt begannen mutige Rechtsmediziner bereits im 19 . Jahrhundert, die für sie offensichtliche Wahrheit in Vorträgen und Veröffentlichungen auszusprechen. Sie – und nicht Kinderärzte, Seelsorger oder Richter – waren die Ersten, die sich zu Anwälten der gepeinigten Kinder machten. Anders als diese konnten sie ihr Wissen in Worte fassen. Doch das bedeutete noch lange nicht, dass man ihren Berichten Gehör oder gar Glauben schenkte.
Auch Pioniere der modernen Medizin, deren Verdienste ansonsten unbestritten sind, taten sich als Leugner von Kindesmisshandlung unrühmlich vor. So stritt Rudolf Virchow ( 1821 – 1902 ), einer der bedeutendsten deutschen Ärzte des 19 . Jahrhunderts, schlichtweg ab, dass
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