Deutschland misshandelt seine Kinder (German Edition)
Kindesmisshandlung befassten. Ab 1999 wurden sogenannte
Gewaltleitfäden
als Hilfestellung für Kinder- und Jugendärzte in allen Bundesländern eingeführt – auch diese Initiative wurde maßgeblich von Rechtsmedizinern angestoßen.
In jüngster Vergangenheit (seit 2008 ) haben zudem etliche Kliniken in deutschen Großstädten sogenannte
Kinderschutzgruppen
eingerichtet. Diese mit Ärzten und Sozialarbeitern interdisziplinär zusammengesetzten Teams nach Schweizer Vorbild sind ein Meilenstein im mühsamen Kampf gegen Kindesmisshandlung.
Doch nach wie vor wissen Kinder- und Hausärzte viel zu wenig über Formen, Merkmale und das epidemische Ausmaß von Kindesmisshandlung. Fakten und Informationsmöglichkeiten liegen seit langem vor. Gleichwohl neigen viel zu viele Ärzte, genauso wie die Mitarbeiter von Jugendämtern und Justizbehörden, noch immer dazu, das heikle Thema teils zu bagatellisieren (»Ein Klaps hat noch keinem geschadet«), teils schlichtweg zu verleugnen.
So sind wir heutigen Rechtsmediziner im Gerichtssaal noch immer oftmals die Einzigen, die offen aussprechen, was nicht sein darf und trotzdem ist. Keineswegs selten werden wir von Verteidigern, aber auch von Staatsanwälten und Richtern verdächtigt, Opfer unserer eigenen »abwegigen« Fantasie geworden zu sein. »Sie haben wohl keine Kinder! Ich bin selbst Vater (oder Mutter) – so etwas würden Eltern ihren Kindern niemals antun!«
Aber die Opfer in diesem leidvollen Spiel sind allein die misshandelten Kinder. Und es sind Opfer nicht von rechtsmedizinischen Fantasien, sondern von brutaler, oft lebenslang schädigender, fast immer elterlicher Gewalt.
Kindesmisshandlung als Folklore?
Als Amon Mansouri in eine Klinik im Berliner Norden eingeliefert wird, sieht er übel zugerichtet aus. Der 14 Monate alte Junge hat eine schwere Kopfverletzung und zahlreiche Hämatome an Stirn und Wangen sowie im Bereich der Ohren.
Familie Mansouri lebt in einem Brennpunktviertel. Sie stammt aus Nordafrika und wird im Auftrag des Jugendamtes von einem privaten Träger betreut. (Wie dieses Outsourcing genau funktioniert – oder auch nicht –, stellen wir in Kapitel 3 dar.) In den regelmäßigen Berichten der »Familienhelfer« an den zuständigen Jugendamtsmitarbeiter sind keine besonderen Vorfälle mit elterlicher Gewalttätigkeit vermerkt.
Diensthabende Ärztin in der Notaufnahme ist an diesem Vormittag Dr. Lena Meißner. Die junge Ärztin fragt die Mutter, wie der Kleine sich die Verletzungen zugezogen habe.
»Von der Couch gefallen«, bekommt sie zur Antwort.
Die Kommunikation ist schwierig. Frau Mansouri spricht kein Deutsch und nur ein paar Brocken Englisch. Amon sei ein wildes Kind, bedeutet sie Dr. Meißner mehr mit Gesten als mit Worten. Außerdem habe sie sechs Kinder, die könne sie nicht immer alle gleichzeitig im Blick haben.
Der Ärztin kommt diese Erklärung nicht besonders glaubwürdig vor. Sie erstattet ihrer Vorgesetzten Bericht, und diese macht Meldung beim Jugendamt.
Axel Pattlow, der zuständige Fallbearbeiter, ist Mitte fünfzig und träumt von Frühpensionierung. Den Traum seiner jüngeren Jahre, Kinder zu schützen und zu fördern, hat er vor langer Zeit zu den Akten gelegt. Doch immerhin reagiert er vorschriftsmäßig auf die Kinderschutzmeldung: Er ruft bei uns im Institut an und ersucht um ein rechtsmedizinisches Gutachten.
Als wir Amon in der Klinik aufsuchen, erkennen wir schon auf den ersten Blick, dass die Ärztin mit ihrem Argwohn richtiglag: Selbst wenn der Kleine mit dem Gesicht voran in einen Haufen Legosteine gestürzt wäre, könnte er nicht derart verbeult und voller Blutergüsse sein. Amons Augen sind zugeschwollen, der gesamte Schädel- und Gesichtsbereich ist extrem berührungsempfindlich. Eine Stationsschwester berichtet uns, dass die Schwellungen im behaarten Kopfbereich, an Stirn und Wangen sogar noch zugenommen hätten, seit Amon in die Klinik gebracht wurde. Der Junge wimmert vor Schmerzen, wenn wir mit den Fingerspitzen behutsam über seine Hämatome tasten.
»Das sind klare Hinweise auf Scalping«, erklären wir dem Chefarzt der Kinderstation, nachdem wir Amon von Kopf bis Fuß untersucht haben. »Jemand hat dem Kind die Kopfschwarte vom Schädel heruntergerissen«, fügen wir hinzu, da uns der Chefarzt nur fragend ansieht.
»Aber wer macht denn so was«, murmelt der gestandene Mediziner kopfschüttelnd. Wir sehen ihm an, dass ihm unsere Diagnose Bauchschmerzen verursacht. Doch er behält seine
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