Deutschland misshandelt seine Kinder (German Edition)
Bedenken für sich.
In unserem Gutachten führen wir aus, dass die von den Eltern vorgebrachte Geschichte nicht stimmen kann.
»Das vorliegende Verletzungsmuster entsteht typischerweise, wenn ein Säugling brutal an den Haaren gepackt wird«,
legen wir dar.
»Daher die Bezeichnung ›Scalping‹: Das Opfer wird sozusagen skalpiert.«
Aufgrund unseres Gutachtens meldet das Jugendamt den Fall der Polizei. Ein solcher Schritt fällt den beamteten Kinderschützern wohl selten leicht – immerhin gestehen sie damit ein, dass sie als Hüter des Kindeswohls versagt haben. Schließlich war die Familie ja im Auftrag des Jugendamtes durch einen privaten Träger »betreut« worden. Doch wegen drohender Wiederholungsgefahr bleibt ihnen keine andere Wahl – und da es sich bei Kindesmisshandlung um ein sogenanntes Offizialdelikt handelt, muss die Polizei der Sache nachgehen.
Die Ermittlungen werden auch in diesem Fall dem LKA 125 übertragen, das auf Delikte an Schutzbefohlenen spezialisiert ist. Kriminaloberkommissarin Marion Henske bittet uns, mit ihr zusammen den mutmaßlichen Tatort zu begehen.
Familie Mansouri lebt in einem Sozialbau der 1970 er-Jahre im Berliner Norden. Die gesamte Vier-Zimmer-Wohnung ist unvorstellbar verwahrlost. Überall liegen leere Fast-Food-Verpackungen und Berge schmutziger Wäsche herum. Gebrauchtes Geschirr, mit Schimmel verkrustet, stapelt sich in der Küche. Hunde und kleine Kinder wühlen in den Abfallbergen. Es ist Winter, die Wohnung ist nicht geheizt, aber die Kinder sind halbnackt. Die Eltern und etliche weitere erwachsene Nordafrikaner sitzen im Wohnzimmer und halten Palaver, ohne sich um die Kinder oder um uns zu kümmern.
Auch die Familienhelferin Lisa Ruppke ist bei der Tatortbegehung dabei. Im Auftrag des Jugendamtes sollte sie zusammen mit einer Kollegin die Familie eigentlich »betreuen«.
»Wie können Sie zulassen, dass die Kinder in dieser Müllhalde vegetieren?«, fragen wir Lisa Ruppke. »Sie hätten Amon und seine Geschwister längst hier herausholen müssen!«
Die Familienhelferin ist Mitte vierzig und von robustem Auftreten. »Müllhalde?«, wiederholt sie und winkt ab. »Da war ich schon in ganz anderen Behausungen. Sie haben ja keine Ahnung, wie Wohnungen aussehen können, die wir zu Gesicht bekommen!«
»Und Sie schauen wohl zu oft Fernsehkrimis«, geben wir zurück. »In der Realität werden auch wir Rechtsmediziner nur selten an Tatorte in Villenvierteln gerufen. Wir haben schon unzählige verwahrloste Wohnungen zu sehen bekommen – aber das hier ist ein Albtraum an Kindeswohlgefährdung! Allein schon durch die hygienischen Zustände und den Mangel an Aufsicht sind die Kinder hier ständig in Gefahr.«
»Alles halb so wild«, wiegelt Lisa Ruppke erneut ab. »Das sind eben die Gebräuche in Afrika. Wir können den Leuten schließlich nicht unsere bürgerlichen Wertvorstellungen aufzwingen.«
Wie wird man so zynisch?, fragen wir uns fassungslos. Vor allem aber: Warum lässt es das Jugendamt zu, dass derart abgestumpfte Helfer zu vollkommen überforderten, chaotisch desorganisierten Familien geschickt werden?
»Wann haben Sie die Familie denn das letzte Mal besucht?«, fragt Kriminaloberkommissarin Marion Henske.
»Das kann ich Ihnen nicht auswendig sagen«, gibt Lisa Ruppke zurück. Sie holt einen Taschenkalender hervor und blättert darin herum.
Beunruhigt beobachten wir währenddessen, wie sich ein etwa dreijähriges Geschwisterkind von Amon an einem wacklig aussehenden Wandregal hochzieht. Die Kleine ist nur mit einer Unterhose bekleidet.
»Vor sechs Wochen«, gibt die Familienhelferin schließlich bekannt. »Meine Kollegin Malu Helsing ist zurzeit in Urlaub. Sie haben ja keine Ahnung, was ich alles am Hals habe!«
»Vor sechs Wochen?« Kommissarin Henske atmet tief durch. Wir sehen ihr an, dass die zynische Helferin sie nicht weniger wütend macht als uns. »Sind die anderen Kinder wenigstens alle da?«, fragt sie weiter. »Oder müssen wir darauf gefasst sein, dass wir ein paar tote Kinder unter diesen Abfallhaufen finden?«
Lisa Ruppke wirft erneut einen Blick in ihr Notizbuch. »Es müssten sechs sein – einschließlich Amon«, verkündet sie.
Mit einiger Mühe gelingt es uns, Amons Geschwister in den Abfallhaufen aufzuspüren. Bei einer ersten Untersuchung an Ort und Stelle finden wir glücklicherweise keine schweren Verletzungen, wie sie Amon, dem jüngsten der sechs Geschwister, zugefügt wurden. Doch die drei Mädchen und zwei Jungen
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