Deutschland misshandelt seine Kinder (German Edition)
untersuchen wir lebende bzw. überlebende Opfer von Gewaltdelikten – insbesondere Opfer von Kindesmisshandlung, häuslicher Gewalt oder Vergewaltigung. Die Methoden, mit denen wir tote Körper untersuchen, um die Entstehung von Verletzungen zu rekonstruieren, lassen sich grundsätzlich auch bei überlebenden Gewaltopfern anwenden.
Gerade wenn es um Kindesmisshandlung geht, kommt unseren Befunden oftmals entscheidende Bedeutung zu. Säuglinge und Kleinstkinder können ja noch nicht schildern, was ihnen angetan wurde. Auch größeren Kindern und Jugendlichen, die eigentlich imstande wären, von ihrem Martyrium und den (meist elterlichen) Tätern zu berichten, fehlt es für einen solchen Schritt verständlicherweise oftmals am nötigen Mut. Ihr Selbstwertgefühl ist durch die oft jahrelange Misshandlung ohnehin stark beeinträchtigt. Ihre Peiniger haben ihnen meist auch noch ein Schweigegebot auferlegt. So ist es die traditionelle Aufgabe des Rechtsmediziners, gerade für misshandelte Kinder das Wort zu ergreifen, ihrem stummen Leid Ausdruck zu verleihen – und es dadurch möglichst auch zu beenden.
Doch in vielen Fällen kommen wir leider zu spät. Wenn wir zu Hilfe gerufen werden und der Verdacht sich bewahrheitet, ist die Misshandlung ohnehin bereits geschehen.
Zu Tode geschüttelte Säuglinge, aus dem Fenster geworfene oder im Müll entsorgte Neugeborene, verhungerte oder zu Tode geprügelte Kinder sind leider keine Seltenheit im rechtsmedizinischen Alltag. Hat ein misshandeltes Kind Glück, so ist es immerhin noch am Leben, wenn es von uns untersucht wird – soweit man es wirklich als Glück bezeichnen kann, wenn ein Kind etwa mit schwersten geistigen und körperlichen Behinderungen überlebt.
Aufgaben der klinischen Rechtsmedizin
Werden wir Rechtsmediziner bei Verdacht auf Kindesmisshandlung hinzugezogen, dann erfüllen wir verschiedene Aufgaben. Zunächst einmal untersuchen wir das Kind, fotodokumentieren alle sichtbaren Verletzungen und beschreiben sie genauestens.
Diese gerichtsverwertbare Dokumentation der Befunde dient mehreren Zwecken:
der Prüfung, ob die Verletzungen durch ein Unfallgeschehen entstanden sein können (wie von den Eltern/Betreuern meist angeführt),
der zeitlichen Einordnung der Verletzungen.
Neben der Kriminalpolizei und – seltener – den Jugendämtern sind es häufig die Kliniken, die uns mit einem rechtsmedizinischen Gutachten beauftragen. In diesen Fällen untersuchen wir die Kinder direkt in der Klinik. In anderen Bundesländern können die Klinikärzte mit dem Kind auch zu rechtsmedizinischen Untersuchungsstellen bzw. Gewaltschutzambulanzen gehen, doch diese äußerst sinnvolle Einrichtung gibt es in Berlin leider bisher nicht (siehe Kapitel 11 ). Falls der Begutachtungsauftrag von der Polizei erteilt wurde, ist bei der Untersuchung auch ein Polizeifotograf anwesend.
Bei einigen Kindesmisshandlungsformen, etwa bei Schütteltrauma, gibt es trotz schwerer innerer Verletzungen keine sichtbaren äußeren Verletzungen. Doch auch in diesen Fällen fotografieren wir das Kind auf der Intensivstation, um später vor Gericht dokumentieren zu können, wie der winzige Säugling vor einem drei Meter hohen Turm mit lebenserhaltenden Geräten lag. Das hilft der Vorstellungskraft von Richtern und Schöffen auf die Sprünge.
Organisationen wie die
Deutsche Gesellschaft für Rechtsmedizin,
die
Arbeitsgemeinschaft Kinderschutz in der Medizin
( AG KiM) u.a. haben Empfehlungen und Richtlinien herausgegeben, welche Untersuchungen bei Verdacht auf Kindesmisshandlung durchgeführt werden sollen. Mit den behandelnden Ärzten besprechen wir jeweils, welche dieser Untersuchungen im konkreten Fall erforderlich sind:
bildgebende Untersuchungen (Magnetresonanztomographie, Ultraschall) des Kopfes,
Röntgen des gesamten Skeletts auf Knochenbrüche,
Blutuntersuchung auf Blutungsneigung bzw. Gerinnungsstörungen (mögliche Erklärung für Hämatome),
Untersuchung des Augenhintergrundes (Verdacht auf Schütteltrauma),
Urinuntersuchung auf Stoffwechselerkrankungen, die ähnliche Symptome wie ein Schütteltrauma hervorrufen können.
Sehr bewährt hat sich auch die Teilnahme von Rechtsmedizinern an interdisziplinären Kinderschutzgruppen der behandelnden Kliniken, an Konfrontationsgesprächen und Helferkonferenzen. Aufgrund unserer alltäglichen Praxis sind wir darin geübt, unsere Befunde so zu erläutern, dass sie auch für Personen aus nichtärztlichen Berufen verständlich sind.
Darüber hinaus
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