Deutschland misshandelt seine Kinder (German Edition)
Verletzungen bei Kindern auf elterliche Gewaltanwendung zurückzuführen sein könnten.
Eine einsame Ausnahme von der Regel des Verleugnens stellt im 19 . Jahrhundert Prof. Ambroise Tardieu ( 1818 – 1879 ) dar. Der französische Rechtsmediziner veröffentlichte 1857 eine Untersuchung über sexuelle Gewalt an Kindern. Drei Jahre später brachte er eine Studie über 32 Fälle körperlicher Kindesmisshandlung heraus – mehr als die Hälfte davon mit tödlichen Folgen für die Opfer. Weitere acht Jahre darauf, 1868 , ließ er eine Untersuchung über Kindstötungen folgen.
Hellsichtig hat Tardieu schon vor 150 Jahren die typischen Merkmale von Kindesmisshandlung beschrieben – sowohl körperliche Symptome wie äußere Verletzungen als auch psychische Folgen wie extreme Deprivation (Entbehrung, Isolation) oder die heute als
frozen watchfulness
bezeichnete Schockstarre der kleinen Opfer. Tardieu schildert auch bereits, wie sich Kindesmisshandler typischerweise der Kooperation mit Ärzten und anderen Helfern verweigern und ihre Taten beharrlich leugnen. Und er beschreibt, wie einfach sich in vielen Fällen überprüfen lässt, ob es sich bei den gefundenen Verletzungen um Kindesmisshandlungsfolgen handelt: Man entferne das Kind aus der mutmaßlich misshandelnden Umgebung – und beobachte, ob Besserung eintritt.
Leidenschaftlich appellierte Prof. Tardieu an seine ärztlichen Standeskollegen, gegen den barbarischen Umgang mit den schwächsten Mitgliedern der Gesellschaft einzutreten. Doch die Mediziner in Frankreich wie auch in Deutschland zogen es vor, die Erkenntnisse und Aufrufe dieses Pioniers der klinischen Rechtsmedizin totzuschweigen – und damit die Leiden unzähliger Kinder zu verleugnen und zu verlängern. Auch innerhalb der Rechtsmedizin fand Tardieu keine Mitstreiter: Seine Nachfolger distanzierten sich von seinen Studien auf dem Gebiet der Misshandlung und erklärten diese für »unglaubwürdig«.
Denn es kann nun einmal nicht sein, was nicht sein darf. Im Mittelalter »durfte« sich die Erde nicht um die Sonne drehen. Und noch bis weit ins 20 . Jahrhundert hinein durften unzählige Schlag-, Brand-, Biss- oder Stichverletzungen der kindlichen Körper keine Folgen elterlicher Gewaltanwendung sein. So hatten alle ihre Ruhe – die Täter ebenso wie die Verleugner. Nur die misshandelten Kinder fanden häufig erst dann ihre Ruhe, wenn sie von ihren Peinigern getötet worden waren.
Erst rund ein Jahrhundert nach Tardieus Studien wagte es ein weiterer Wissenschaftler, das heiße Eisen Kindesmisshandlung anzupacken. 1961 leitete der US -amerikanische Pädiatrieprofessor C. Henry Kempe die Jahrestagung der
American Academy of Pediatrics
in Chicago. Dort hielt er den Vortrag
»The Battered Child Syndrome«
(»Das Kindesmisshandlungssyndrom«), der im Jahr darauf auch im renommierten
Journal of the American Medical Association
veröffentlicht wurde.
Dieser Vortrag, in dem die Hauptmerkmale der Kindesmisshandlung erstmals seit Tardieu umfassend dargelegt werden, erregte in der Fachöffentlichkeit großes Aufsehen. Doch auch Prof. Kempe stieß keineswegs auf überwiegende Zustimmung. Wiederum meldeten sich zahlreiche Kapazitäten zu Wort, die dem deutschstämmigen Wissenschaftler heftig widersprachen. Und die Mehrheit der Kinder- und Jugendmediziner in den USA und Europa zog es wie seit jeher vor, das Thema zu ignorieren.
Noch in den 1980 er-Jahren weigerte sich die medizinische Fachwelt hierzulande, das Problem massenhafter Kindesmisshandlung in deutschen Familien zur Kenntnis zu nehmen. Als einsame Vorkämpferin versuchte die Rechtsmedizinerin Elisabeth Trube-Becker, Kinder- und Jugendärzte durch Vorträge und Publikationen aufzurütteln. Immerhin gelang es ihr und ihren Mitstreitern, das Thema auf die Tagesordnung einiger größerer Fachtagungen setzen zu lassen. Die Bundesärztekammer veröffentlichte erstmals Leitlinien zur Diagnostik von Kindesmisshandlung. Die Monatsschrift
Kinderheilkunde
ging mit einer Sammlung von Übersichtsarbeiten erstmals ausführlich auf den Komplex »körperliche Misshandlung, Vernachlässigung und sexueller Missbrauch von Kindern« ein. Doch in der Praxis der Kinder- und Jugendärzte wie auch auf den Kongressen der pädiatrischen Fachwelt spielte das Thema nach wie vor keine nennenswerte Rolle.
Noch bis vor wenigen Jahren waren es fast ausschließlich Rechtsmediziner sowie Kinder- und Jugendpsychiater, die sich in Forschung und Praxis mit dem Tabuthema
Weitere Kostenlose Bücher