Deutschland misshandelt seine Kinder (German Edition)

Misshandlung ist nicht wegzuerklären, das Verletzungsmuster lässt schlichtweg keine andere Deutung zu. Nach dem Konfrontationsgespräch informiert die Klinik das LKA 125 . Kurz darauf erscheinen zwei Kriminalbeamte in der Klinik und lassen sich die Verletzungen von uns erklären.
    Die Eltern werden in die Dienststelle des LKA 125 gebracht und getrennt vernommen. Sarah Metzner kommt als Täterin nicht in Frage: Sie war ab frühmorgens auf einer Vernissage. Sowohl sie selbst als auch ihr Mann geben an, dass es Sophie zu diesem Zeitpunkt gutging. Kaspar Metzner bestreitet auch keine Sekunde lang, dass er allein mit Sophie in der Wohnung war. Doch die Tat leugnet er desto energischer.
    So wenig wie die Gesprächsrunde in der Klinik kann offenbar auch er das Geschehen mit seinem Selbstbild in Einklang bringen. Kaspar Metzner ist Pazifist, Greenpeace-Aktivist, Vegetarier.
    Und Kindesmisshandler.
    Nach dreistündiger Vernehmung bricht er zusammen. Unter Tränen gesteht er, dass er Sophie am späten Nachmittag ungefähr zehnmal in den Bauch geboxt hat.
    »Ich war frustriert«, sagt er, »weil sie schon wieder nicht frühstücken wollte. Ich hatte ihr den Obstbrei gemacht, und sie hat den Teller runtergeschmissen. Schon wieder. So ging das seit Tagen. Und da habe ich wohl die Nerven verloren.«
    Je ungeduldiger er wurde, weil Sophie nichts essen wollte, desto quengeliger wurde sie, wenn er auch nur mit dem Breiteller in ihre Nähe kam. »Ich habe Stunden damit verbracht, sie zu füttern«, sagt Kaspar Metzner aus. »Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass sie das extra macht – dass sie mich festnagelt mit diesem Kinderkram, nur damit ich keine Zeit mehr für meine Kunst habe.«
    Er schüttelt den Kopf. »Verrückt«, sagt er wie zu sich selbst. »Genau dasselbe hat mein Vater mir und meinem Bruder auch immer vorgeworfen. Dass er sich für uns in seiner langweiligen Anwaltskanzlei aufopfern müsste, obwohl er viel lieber auf der Veranda gesessen und von früh bis spät seine Aquarelle gemalt hätte. Er hat mich mein halbes Leben lang mit seinem Hass und seiner Bitterkeit verfolgt – und jetzt mache ich es genauso!«, fügt er fassungslos hinzu. »Und dabei bin ich doch extra in Elternzeit gegangen, weil ich es anders machen wollte!«
     
    Nur selten sind gebildete Kindesmisshandler zumindest nachträglich so einsichtig wie Kaspar Metzner. In einem anderen Fall hatte ein neun Monate alter Säugling schwere Hirnverletzungen erlitten. Aus unserem Gutachten ging eindeutig hervor, dass es sich um ein Schütteltrauma handelte
(Shaken Baby Syndrome)
 – der Junge war massiv geschüttelt worden.
    Die Eltern ließen sich von einem befreundeten Ingenieur ein Gegengutachten erstellen. Darin erklärte der »Sachverständige«, dass das Kind seinen Kopf in einem bestimmten Winkel gehalten haben müsse, als es unglücklich vom Wickeltisch gefallen sei. Er fügte sogar eine Skizze bei, um den genauen Winkel der angeblichen Kopfhaltung des Babys darzustellen.
    Das Schütteltrauma ist eine der massivsten und lebensbedrohlichsten Formen der Kindesmisshandlung (siehe Kapitel 4 ). In solchen Fällen ordnet das Jugendamt daher fast immer an, das Kind in einer Pflegefamilie unterzubringen. Doch diese Regel scheint außer Kraft gesetzt, wenn die Eltern Doktortitel vorzuweisen haben und in einem gediegenen Viertel wohnen. In diesem Fall beteuerten sie zudem, dass sie beide sich das Baby gewünscht hätten. Tatsächlich hatte sich die Frau einer jahrelangen Fruchtbarkeitsbehandlung unterzogen, ehe sie endlich schwanger geworden war.
    Das änderte zwar nichts am rechtsmedizinisch festgestellten Sachverhalt: Die angeblich rundum glücklichen Eltern hatten ihr Baby massiv misshandelt. Aber zuständig beim Jugendamt war nicht der immer noch einigermaßen idealistische Meik Simmering, sondern ein ausgebrannter Beamter kurz vor dem Ruhestand. Die Eltern des brutal geschüttelten Säuglings seien doch eigentlich engagierte und kultivierte Leute, befand er – und gab ihnen das schwer misshandelte Kind mit ein paar leicht zu erfüllenden Auflagen wieder mit.

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    2 Vorkämpferin gegen Kindesmisshandlung: die Rechtsmedizin
    Nach landläufiger Vorstellung werden Rechtsmediziner immer erst dann eingeschaltet, wenn der Tod eingetreten ist. Tatsächlich aber nimmt die Arbeit mit lebendigen Menschen in unserem Fach breiten Raum ein. Dieser Bereich wird als
klinische Rechtsmedizin
bezeichnet.
    Im Auftrag von Jugendämtern oder der Justizbehörden