Deutschland misshandelt seine Kinder (German Edition)
nach Hause zurück.
Zwei Tage später sind sie wieder da: Justins Oberschenkel ist erneut gebrochen, der Nagel kommt durch die Haut. Noch immer denken sich die behandelnden Ärzte nichts Böses. Dr. Klaus Rathner von der Kinderintensivstation, der in der Klinik normalerweise Kinder begutachtet, ist im Urlaub. Justin wird zum zweiten Mal geröntgt, der Bruch erneut genagelt. Dann kehren Eltern und Kind wiederum nach Hause zurück.
Nach einigen weiteren Tagen hat Dr. Rathner seinen Urlaub beendet. Er geht die Patientenakten der letzten Wochen durch und stößt auf die Röntgenaufnahmen von Justin Ramelow. Seltsam, da ist ja noch ein weiterer Bruch im Oberschenkel, sagt er sich. Und eine Rippe hat der Säugling auch noch gebrochen.
Er berät sich mit den Kollegen von der Kinderchirurgie, die den Oberschenkelbruch genagelt haben. Der Verdacht auf Kindesmisshandlung liegt in der Luft, aber noch spricht ihn niemand offen aus. Die Ärzte beschließen, die Familie nochmals in die Klinik zu bestellen.
Erneut erscheinen Bruce Ramelow und Jennifer Heinze, die zweijährige Celine im Buggy und den Säugling im Kinderwagen. Die Mutter kümmert sich liebevoll um ihre beiden Kinder. Der Vater macht mit seinem Irokesenschnitt, den Drachen-Tattoos und aufgepumpten Oberarmen zwar einen furchteinflößenden Eindruck. Aber auch Bruce Ramelow scheint eine enge Bindung zu seiner Tochter zu haben. Und als er Dr. Rathner fragt, was mit Justin los sei, wirkt er aufrichtig besorgt.
»Wir müssen den Kleinen noch mal röntgen«, sagt der Arzt. »Dann wissen wir hoffentlich mehr.«
Entgeistert schauen er und seine Kollegen von der Kinderchirurgie kurz darauf die Röntgenbilder an. Justins Arme und Beine, sein Brustkorb und sogar seine Wirbelsäule weisen Brüche auf. Insgesamt zählen die Ärzte 23 Knochenbrüche.
Sicherheitshalber röntgen sie auch die zweijährige Celine. Doch das Mädchen ist in gutem Gesundheitszustand: keine Knochenbrüche, keine Hämatome, keine auffälligen Entwicklungsrückstände.
Dr. Rathner ruft bei uns im Institut an und bittet uns, den Säugling möglichst umgehend zu begutachten. Außerdem erstattet die Klinik Meldung beim Jugendamt.
Der zuständige Beamte dort ist Meik Simmering. Der engagierte Sozialarbeiter sucht sich sofort die Fallakte von Bruce Ramelow heraus. Sie ist noch sehr viel umfangreicher als seine Polizeiakte. Bruce war als Kind von seinem Vater viele Jahre lang misshandelt worden. Ab seinem achten Lebensjahr wurde er von Erziehungshelfern mehrmals über längere Zeiträume betreut. Trotzdem durchlief er die übliche kriminelle Karriere – vom Gewaltopfer zum Gewalttäter, der sich für die zu Hause erlittenen Misshandlungen an Schwächeren schadlos hält.
Gerade junge Männer mit einem solchen Hintergrund geben ihre eigene Gewalterfahrung oftmals an die eigenen Kinder weiter, überlegt Meik Simmering. Auch dass Justins Schwester keine Misshandlungsspuren aufweist, passt ins Bild. Höchstwahrscheinlich kopiert Bruce Ramelow (unbewusst) seine eigenen Kindheitserfahrungen.
Wir fahren noch am selben Tag in die Klinik, um Justin zu untersuchen. Die zahlreichen Knochenbrüche und die Polizeiakte des Kindsvaters – auch aus unserer Sicht spricht fast alles dafür, dass Bruce Ramelow seinen kleinen Sohn misshandelt hat, wie er selbst von seinem Vater misshandelt wurde.
Bei der Betrachtung der Röntgenbilder werden wir jedoch nachdenklich. Die Knochen sehen sonderbar aus, auch die Brüche in der Wirbelsäule sind aus rechtsmedizinischer Sicht irritierend. Sie gehören nicht zu den typischen Verletzungen misshandelter Säuglinge.
Wir empfehlen eine genetische Untersuchung, die allerdings mehrere Wochen dauert. Auf unseren Rat hin nimmt das Jugendamt den kleinen Justin in Obhut, um ihn während dieser Zeit vorsorglich zu schützen. Das Baby wird bei Pflegeeltern untergebracht und einer umfassenden genetischen Diagnostik unterzogen.
Nach sechs Wochen liegt das Ergebnis vor: Justin Ramelow leidet an
Osteogenesis imperfecta,
auch bekannt als Glasknochenkrankheit. Hierbei handelt es sich jedoch um keine Krankheit im engeren Sinn, sondern um eine seltene Behinderung.
Die Knochen der betroffenen Patienten weisen eine glasige Struktur auf und sind extrem brüchig. Ursache ist eine angeborene Kollagenfehlbildung. Kollagen vom Typ 1 ist der Hauptbestandteil des Bindegewebes und die wichtigste Grundlage für den Aufbau der Knochenmatrix. Die Knochen von Menschen mit dieser Behinderung brechen
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