Deutschland misshandelt seine Kinder (German Edition)

Kindesmisshandlungsfälle fehlt dagegen eine plausible Erklärung. Glaubwürdig ist diese natürlich nur dann, wenn sie zum Entwicklungsstand des Kindes und seinen individuellen Fähigkeiten passt. Ein Säugling von weniger als zwölf Monaten kann nicht das einen Meter hohe Gitter seines Bettchens überklettert haben. Ein Dreijähriger wird in der Regel nicht imstande sein, sich selbst mit komplizierten Knoten zu fesseln usw. Es ist erstaunlich, wie oft ungeschulte Personen auf offensichtlich abwegige Erklärungen hereinfallen.
    Misshandler sind oftmals Drogenmissbraucher
    Ein weiteres Anzeichen sind auffällige Verhaltensweisen der Eltern oder sonstigen Betreuer, die sich zum Zeitpunkt des angeblichen Unfalls bei dem Kind aufgehalten haben. Häufig weisen solche Verhaltensabweichungen auf Alkohol-, Drogen- oder Tablettenmissbrauch hin – und dieser wiederum geht häufig mit Kindesmisshandlung einher.
    Aus naheliegenden Gründen schränkt Drogenmissbrauch die Fähigkeit, Kinder zu betreuen, erheblich ein. Zudem sind chronische Drogenmissbraucher psychisch instabile Personen, die meist durch unverarbeitete eigene Kindheitstraumata belastet sind.
    Misshandler zögern den dringend nötigen Arztbesuch hinaus
    Wenn ihr Kind durch einen echten Unfall verletzt wurde, setzen die Eltern alles daran, ihm so schnell wie möglich medizinische Hilfe zukommen zu lassen. Misshandler dagegen zögern den Gang zum Arzt oder in die Klinik häufig hinaus. Schließlich haben sie allen Grund zu der Befürchtung, als Täter überführt zu werden. Daher reden sie sich zunächst ein, dass sich das Kind schon von selbst wieder erholen werde. Erst wenn sich der Zustand des kleinen Opfers nicht verbessert oder sogar verschlimmert, entschließen sie sich widerwillig, für medizinische Hilfe zu sorgen.
    Oftmals geht Kindesmisshandlung auch mit Kindesvernachlässigung einher: Nicht selten bemerken solche Eltern tatsächlich erst lange nach der Misshandlung, dass das Kind krampft, verzögert reagiert oder wie leblos in seinem Bett liegt.

Entlastung unschuldiger Eltern
    Wir Rechtsmediziner treten entschieden für die Rechte der Kinder ein. Das bedeutet aber keineswegs, dass wir die Eltern unter Generalverdacht stellen würden. Ganz im Gegenteil: Aufgrund unserer beruflichen Erfahrung erkennen wir oftmals genauer als andere, ob wir fürsorgliche Eltern mit einem verunglückten Kind vor uns haben – oder Misshandler mit ihrem Opfer.
    Die Erklärungen, die »gute« Mütter und Väter für die Verletzungen ihres Kindes vorbringen, sind fast immer plausibel und leicht nachvollziehbar. Meist haben die Eltern so schnell wie möglich medizinische Hilfe für ihr Kind gesucht. Wenn die Ärzte in der Klinik empfehlen, zur Klärung des Unfallgeschehens einen Rechtsmediziner hinzuziehen, dann stimmen Eltern mit gutem Gewissen in aller Regel zu. Schließlich haben sie nichts zu verbergen – und natürlich wollen sie wissen, was mit ihrem Kind wirklich passiert ist. Ob sich beispielsweise hinter plötzlich aufgetretenen Hämatomen oder Knochenbrüchen eine unerkannte Krankheit verbirgt.
    Sechs Wochen alt – 23  Knochenbrüche
    Der junge Vater gehört der »Generation Kevin« an, und schon sein Vorname klingt wie eine Kampfansage. Mit 21  Jahren hat Bruce Ramelow bereits eine Polizeiakte so dick wie seine Oberarme. Ausnahmslos Körperverletzungsdelikte, von Schulhofschlägereien ab der sechsten Hauptschulklasse über Massenprügeleien mit seiner Jugendbande bis hin zu Faustattacken auf diverse Lebensgefährtinnen.
    Seit Bruce Ramelow mit der ein Jahr jüngeren Jennifer Heinze liiert ist, scheint sein Leben in ruhigeren Bahnen zu verlaufen. Er hat einen Job als Kurierfahrer gefunden, sie kümmert sich zu Hause um die beiden gemeinsamen Kinder. Töchterchen Celine hat gerade den zweiten Geburtstag gefeiert, und vor sechs Wochen wurde Justin geboren. Mit der Polizei hatte Bruce Ramelow schon seit gut zwei Jahren nichts mehr zu tun.
    An einem Sonntag in aller Frühe erscheinen die jungen Eltern mit dem Säugling in der Notaufnahme einer Berliner Klinik. Das Baby wimmert vor Schmerzen, sein rechter Oberschenkel ist gebrochen. So etwas kommt vor, wenn junge, unerfahrene Eltern den Säugling etwas zu ruppig anfassen, denken sich die Kinderchirurgen. Der Bruch wird geröntgt und in der Kinderchirurgie genagelt. Auf die Idee, dass Mutter oder Vater das Baby misshandelt haben könnten, kommt in der Klinik niemand. Und so kehren die Eltern mit dem kleinen Justin