Deutschland misshandelt seine Kinder (German Edition)
Linie – liegen. 7 , 5 Milliarden Euro sind sehr viel Geld, auch in Zeiten, in denen aufgrund immer weiterer milliardenteurer »Rettungspakete« die Dimensionen zu verrutschen drohen.
Nackt im Kellerloch
Lena Feddersen ist 24 und hat ihr Studium der Sozialarbeit erst vor ein paar Monaten beendet. Sie ist hocherfreut, als ihr der freie Träger
Family Empowerment gGmbH
einen Job anbietet. Die Organisation buhlt mit kühnen Versprechen und altruistischer Rhetorik um die Gunst der Jugendämter.
Beim Einstellungsgespräch erklärt Geschäftsführer Jan Hinrich, worauf es in ihrer Branche ankommt: »Wir helfen den Familien, ihr Leben in die eigenen Hände zu nehmen.« Kindesmisshandlung ist seiner Auffassung nach nur ein Ausdruck elterlicher Überforderung und Frustration. »Wenn wir die Eltern in die Lage versetzen, mit ihrer familiären und beruflichen Situation zurechtzukommen, werden sie fast unweigerlich zu fürsorglichen Müttern und Vätern.«
Jan Hinrichs Idealismus überzeugt die junge Helferin. Ihre Enttäuschung über das magere Einstiegsgehalt von 1300 Euro netto schluckt sie schnell wieder herunter. Schließlich ist sie nicht Sozialarbeiterin geworden, um sich eine goldene Nase zu verdienen. Und die Menschen, denen sie mit ihrem Engagement und Fachwissen helfen will, sind finanziell oft noch sehr viel schlechter dran.
Also unterschreibt Lena Feddersen den Vertrag mit
Family Empowerment.
Sie bekommt auch gleich ihre ersten Klienten zugeteilt: Zusammen mit Marlies Küfner, einer routinierten Kollegin Ende vierzig, soll sie einmal wöchentlich Familie Mihajlovič besuchen. Der dreijährige Mirko Mihajlovič war vor einigen Monaten mit misshandlungstypischen Knochenbrüchen in eine Klinik eingeliefert worden. Seine körperliche und geistige Entwicklung ist deutlich verzögert. Das Familiengericht hat angeordnet, die Eltern durch Familienhelfer zu unterstützen.
Die Mihajlovičs wohnen in einem Sozialbau der 1970 er-Jahre am westlichen Stadtrand. In der Fallakte hat Lena Feddersen von vermüllten Zimmern und deutlichen Zeichen der Unterernährung bei Mirko gelesen, aber davon ist bei ihren Besuchen nichts mehr zu sehen.
Das Gebäude wirkt heruntergekommen, doch die Wohnung der Mihajlovičs macht einen gepflegten Eindruck. Die Einrichtung ist zweckmäßig, die Zimmer sind sauber und aufgeräumt. Dunja Mihajlovič, die Mutter des Jungen, und Mirko selbst sind immer ordentlich gekleidet, wenn die Sozialarbeiterin zu Besuch kommt. Der Junge ist schweigsam, eigentlich gibt er kaum ein verständliches Wort von sich, aber seine Mutter geht allem Anschein nach liebevoll mit ihm um. Slobodan Mihajlovič, den Vater, bekommt die Familienhelferin nicht zu sehen: Angeblich ist er auf Arbeitssuche.
Lena Feddersen ist von ihrer neuen Aufgabe begeistert. Schon nach wenigen Besuchen hat sie es geschafft, eine positive Beziehung zu Dunja Mihajlovič aufzubauen. Die Mutter erzählt ihr bereitwillig von Vorsorgeuntersuchungen beim Kinderarzt und von Mirkos gesundem Appetit. Die Sozialarbeiterin hilft ihr beim Ausfüllen von Behördenformularen und gibt ihr Ernährungstipps, die sich Dunja Mihajlovič aufmerksam anhört. Während sich die beiden Frauen unterhalten, sitzt Mirko auf dem Wohnzimmerboden und schaut mit heiterem Lächeln zu ihnen auf.
In ihren Berichten für das Jugendamt weiß Lena Feddersen nur Erfreuliches zu vermerken.
»Familie Mihajlovič gelingt es zunehmend, auf eigenen Füßen zu stehen, und entsprechend fürsorglich kümmert sich die Mutter um Mirko.«
Der Ansatz von
Family Empowerment
scheint sich voll und ganz zu bewähren.
Als Lena Feddersen ihre Kollegin auf den Fall Mirko ansprechen will, macht Marlies Küfner eine wegwerfende Handbewegung. »Zeitverschwendung, jede Woche dort aufzukreuzen«, wehrt die routinierte Helferin ab.
Eine Antwort, die Lena Feddersen lange nicht aus dem Kopf geht. Aber aus Angst, sich lächerlich zu machen, fragt sie nicht nach. Wie soll Marlies Küfner ihre Bemerkung schon gemeint haben, beruhigt sie sich: Bei den Mihajlovičs läuft alles so gut, dass sie wirklich schon bald keine Unterstützung mehr brauchen.
Nur wenige Tage später klingelt beim Kriminaldauerdienst ( KDD ) das Telefon. Am Apparat ist ein Rentner, der sich als Gerhard Zastrow vorstellt, wohnhaft in demselben Mehrfamilienhaus, in dem die Mihajlovičs leben. »Ich war eben im Keller«, berichtet er. »Da hörte ich ein Wimmern. In einem Verschlag ganz hinten im Keller fand ich einen kleinen Jungen.
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