Deutschland misshandelt seine Kinder (German Edition)
Lebensgefährten fragend an. Beide wirken angespannt. »Als ich klein war, sind meine Eltern nicht wegen jedem Furz mit mir zum Arzt gerannt«, sagt René Meller schließlich. »Aber von mir aus gehen wir.«
Jessica Stiglitz und Mandy Hausner beschließen, die Familie zur Praxis der Kinderärztin zu begleiten. Die frische Luft scheint der kleinen Chantal gutzutun. Jedenfalls schreit sie nicht mehr unaufhörlich vor Schmerzen und übergibt sich auch nicht mehr alle fünf Minuten. Sie liegt nur apathisch in ihrem Buggy und wimmert vor sich hin.
Dagegen redet René Meller mit leiser Stimme auf seine Lebensgefährtin ein. Die unerfahrenen Sozialarbeiterinnen denken sich nichts dabei. Und sie schöpfen auch keinen Verdacht, als sich Denise Malowsky mit herzlichem Lächeln an sie wendet:
»Sie brauchen nicht weiter mitzugehen. Wir wollen doch auch das Beste für Chantal. Sie können sicher sein, dass wir sie zur Ärztin bringen.«
René, der den Kinderwagen schiebt, nickt bestätigend. Sie nähern sich dem U-Bahnhof, und bis zur Arztpraxis sind es noch drei Straßenblocks. Mit den beiden Jungs, die Denise Malowsky links und rechts an der Hand hat, brauchen sie dafür mindestens zwanzig Minuten.
Mandy Hausner wirft Jessica Stiglitz einen Blick zu. »Sie hat recht«, sagt sie. »Fahren wir. Wir sind sowieso ziemlich spät dran.«
Die beiden Sozialarbeiterinnen schauen noch einmal nach dem apathischen Kind in seinem Buggy. Chantal ist ganz grau im Gesicht. Sie sieht schrecklich krank aus. Aber die Eltern haben ja versprochen, sie zur Ärztin zu bringen. Und die nächste Familie wartet schon.
René Meller und Denise Malowsky winken den Helferinnen hinterher, bis sie im U-Bahnhof verschwunden sind. Dann drehen sie um und kehren in ihre Wohnung zurück.
»Die Ärztin macht uns nur Ärger«, hat René ihr vorhin zugeflüstert. »Und du willst doch keinen Ärger, oder?«
Nein, Denise will keinen Ärger. Weder mit der Ärztin noch mit ihrem Lebensgefährten. René ist eigentlich ein friedlicher Kerl, aber wenn die Dinge nicht so laufen, wie er sich das vorstellt, kann er ziemlich ausrasten. Denise weiß das aus eigener Erfahrung. Und sie hat ja auch mitbekommen, was vor zwei Tagen bei ihnen im Badezimmer passiert ist. René hat die Kleinen geduscht, alle drei zusammen, damit es schneller ging. Aber Chantal wollte sich nicht einseifen lassen, sie hat rumgeschrien, und da hat René wohl wieder mal die Nerven verloren.
Jedenfalls lag ihr kleines Mädchen wimmernd in der Dusche, als Denise ins Bad gerannt kam. Auf Chantals Bauch war ein riesiger klatschroter Fleck, der sich in den Tagen danach blau und violett verfärbt hat. Vor allem aber ist Chantals Bauch immer mehr angeschwollen und hart geworden, und wenn man nur mit dem Finger hineindrückt, schreit sie los wie am Spieß.
Zum Glück haben sich die Helferinnen das Mädchen nicht genauer angesehen, hat René ihr vorhin erklärt. Sonst hätten sie jetzt wirklich einen Riesenärger am Hals. Wenn sie sich aber still verhalten und die Kleine nur gehörig mit Cola und Salzstangen füttern, wächst sich das alles wieder aus. Jedenfalls laut René. Denise betet im Stillen, dass er recht hat.
Doch das dafür erforderliche Wunder bleibt aus. In der folgenden Nacht wählt Denise Malowsky gegen drei Uhr den Notruf. »Chantal, meine Tochter!«, stößt sie unter Tränen hervor. »Ich weiß nicht, was mit ihr los ist – sie rührt sich nicht!«
Der Notarzt kann die Sterbende nicht mehr retten. Bei der Obduktion stellen wir fest, dass das Mädchen eine traumatische Darmruptur hat, wie sie typischerweise durch einen Tritt oder einen sehr heftigen Faustschlag in den Bauch entsteht. Durch die Risse in der Darmwand ist Kot in den Bauchraum gelangt. Die Folge war eine eitrige Bauchfellentzündung. Chantal muss tagelang unter unerträglichen Schmerzen gelitten haben. Darüber hinaus entdecken wir eine Vielzahl älterer Verletzungen am ganzen Körper des kleinen Mädchens. Zweifellos wurde sie über einen längeren Zeitraum immer wieder schwer misshandelt.
Wir regen ein ergänzendes kinderchirurgisches Fachgutachten an. Dadurch soll geklärt werden, ob Chantal überlebt hätte beziehungsweise hätte gerettet werden können, wenn die Eltern mit ihr zur Kinderärztin gegangen wären. Die Gutachterin kommt zu einem eindeutigen Urteil:
»Durch eine einfache
OP
mit Entfernung der verletzten Darmareale und Spülung des Bauchraums wäre Chantal mit hoher Wahrscheinlichkeit zu retten
Weitere Kostenlose Bücher