Deutschland misshandelt seine Kinder (German Edition)
Er ist vielleicht drei, vier Jahre alt, vollkommen nackt und verdreckt. Ich wollte ihn da rausholen, aber die Tür ist mit einem Vorhängeschloss gesichert. Sie müssen sofort kommen! Bestimmt haben Kidnapper den Jungen in dieses furchtbare Verlies gesperrt!«
Die Kriminalisten vom KDD informieren das Jugendamt. Zusammen mit den Polizeibeamten fährt Pit Bangemann, der zuständige Sachbearbeiter, zu dem Sozialbau am Stadtrand. Dort wartet Gerhard Zastrow schon vor der Haustür. Der ältere Herr wirkt noch immer entsetzt, als er sie zu dem Verschlag im Keller führt.
Kaum weniger entgeistert ist Pit Bangemann, nachdem Feuerwehrbeamte die Verliestür aufgebrochen haben. Der Junge, der dort splitternackt auf dem schmutzstarrenden Kellerboden hockt, ist Mirko. Pit Bangemann kennt ihn seit langem, wenn auch vorwiegend aus der Fallakte. Die Familie Mihajlovič gehört in seinen Zuständigkeitsbereich. Jede Woche bekommt Pit Bangemann die Berichte der Familienhelferinnen auf den Tisch. Aber darin hat es doch immer geheißen, dass Dunja Mihajlovič den Kleinen liebevoll betreut!
Pit Bangemann und seine Kollegin nehmen Mirko wegen akuter Kindeswohlgefährdung in Obhut. Der Junge wird erstversorgt und in eine Kinderklinik gebracht. Bei der rechtsmedizinischen Untersuchung stellt sich heraus, dass sich Mirkos geistige und körperliche Entwicklungsrückstände seit der letzten Begutachtung sogar noch vergrößert haben. Der Junge ist mangelernährt und kann trotz seiner drei Jahre kaum verständlich sprechen.
Beim Konfrontationsgespräch in der Klinik zeigt Dunja Mihajlovič keinerlei Schuld- oder Unrechtsbewusstsein. »Mirko ist gerne da unten«, behauptet sie. »Und weil er sich da immer so dreckig macht, habe ich ihm gar nicht erst etwas angezogen.«
»Aber Sie haben den Familienhelferinnen etwas vorgespielt!«, hält ihr die Leiterin der Kinderschutzgruppe vor. »Wenn Frau Küfner oder Frau Feddersen ihren Besuch angekündigt hatten, haben Sie Mirko immer sauber gewaschen und bekleidet vorgeführt.«
Mutter Mihajlovič sieht sie verständnislos an. »Was hätte ich denn sonst machen sollen?«, gibt sie zurück. »Schließlich wollte ich ja keinen Ärger bekommen.«
Das Familiengericht fordert den Leiter des zuständigen Jugendamtes zu einer Stellungnahme auf. Wieso haben die Familienhelferinnen nicht bemerkt, dass Mirko unter unmenschlichen Bedingungen in einem Kellerloch gefangen gehalten wurde?
Harry Soltau, der Jugendamtsleiter, hat sich mit Pit Bangemann beraten, der zuvor seinerseits Marlies Küfner und Lena Feddersen angehört hat.
»Die Mutter hat offenkundig kooperiert«,
gibt er zu Protokoll.
»Deshalb haben die Helferinnen ihren Besuch immer vorher angekündigt. Unangemeldete Besuche wirken wie Kontrollen und belasten das Vertrauensverhältnis zwischen Helfern und Familien. Auf dieses Mittel greifen wir daher nur bei konkretem Verdacht auf Kindeswohlgefährdung zurück, und dafür gab es hier keine Anzeichen.«
Seitenlang führt der Behördenleiter weiter aus, wie intensiv die Familie beobachtet worden sei und wie positiv sie sich entwickelt habe.
»Die vom Familiengericht angeregten Hilfsmaßnahmen wurden korrekt durchgeführt«,
schließt er seinen Bericht.
»Seitens des Jugendamtes sind keine Fehler oder Versäumnisse festzustellen.«
Akte zu, alles gut? Für den kleinen Mirko wohl kaum. Obwohl er mittlerweile seit einem halben Jahr bei Pflegeeltern lebt, wacht er immer noch jede Nacht schreiend aus Albträumen auf. Höchstwahrscheinlich wird er bis in sein Erwachsenenalter an Angstattacken leiden und stark suchtgefährdet sein. Aufgrund seiner verzögerten geistigen und körperlichen Entwicklung werden seine schulischen Leistungen unterdurchschnittlich sein. Er wird von Gleichaltrigen gemobbt und drangsaliert werden, und über kurz oder lang wird aus dem ewigen Opfer Mirko selbst ein Gewalttäter werden, der Schwächere misshandelt – nicht zwangsläufig, aber mit hoher Wahrscheinlichkeit.
Gleichwohl hat das zuständige Jugendamt nach eingehender Prüfung festgestellt, dass gemäß den Richtlinien alles fehlerfrei gehandhabt worden ist. Das erinnert an den alten Medizinerwitz: »Operation gelungen, Patient tot.« Für unbefangene Beobachter lässt die zynische Selbstdiagnose nur einen Schluss zu: Wenn alle vorgeschriebenen Kinderschutzmaßnahmen korrekt durchgeführt wurden und das Kind, das eigentlich geschützt werden sollte, trotzdem monatelang physisch und psychisch vernachlässigt und im
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