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Deutschland misshandelt seine Kinder (German Edition)

Deutschland misshandelt seine Kinder (German Edition)

Titel: Deutschland misshandelt seine Kinder (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tsokos , Saskia Guddat
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von Pflichtvergessenheit – und doch sehr viel eher die Regel als die Ausnahme in deutschen Jugendämtern.
    Im Tiefschlaf
    Oder das Beispiel
Nadine Küstritz:
Das zweijährige Mädchen wird mit Symptomen einer schweren Lungenentzündung ins Krankenhaus eingeliefert. Trotz aller Bemühungen der Ärzte verstirbt sie zwei Tage später auf der Kinderintensivstation. Da die Todesart der kleinen Patientin ungewiss ist, schaltet die Klinik die Polizei ein.
    Unsere Obduktion ergibt eindeutig, dass Nadine an den Folgen einer verschleppten Lungenentzündung gestorben ist. Die Krankheitssymptome waren auch für Laien leicht erkennbar – hätte das Mädchen rechtzeitig medizinische Hilfe erhalten, dann hätte es überlebt. Doch als die Kleine mit hohem Fieber in ihrem Bett lag, hat sich offenbar tagelang niemand um sie gekümmert.
    Bei der Begehung der Familienwohnung in einem Hamburger Brennpunktviertel bietet sich uns ein kaum glaubliches Bild. Die Wohnung ist grauenvoll verdreckt und heruntergekommen. Die beiden Räume, in denen Nadine und ihre fünf Geschwisterkinder lebten, sind mit schrottreifen Möbeln ausgestattet: Schränke und Stühle zertrümmert und unbrauchbar, die Betten mit nackten Lattenrosten ohne Matratzen. Die Fenster sind mit schwarzer Folie abgeklebt, Böden und Wände über und über mit Kot verschmiert. Die Luftfeuchtigkeit in den Kinderzimmern gleicht der in tropischen Gewächshäusern. Nur das Wohnzimmer ist leidlich sauber und aufgeräumt.
    Wir untersuchen auch die überlebenden Geschwisterkinder von Nadine, die zwischen drei und zehn Jahre alt sind. Alle fünf weisen ausgeprägte Vernachlässigungssymptome auf. Ihre geistige und körperliche Entwicklung ist stark verzögert. Außerdem sind sie untergewichtig und mit Verletzungen übersät – Folgen körperlicher Misshandlung und unbeaufsichtigten Spielens in der unfassbar verschmutzten Wohnung. Und in ihrem Blut finden wir Spuren eines Beruhigungsmittels.
    Das Ungeheuerlichste bei diesem Fall ist jedoch weder der rekordverdächtige Verwahrlosungsgrad der Kinderzimmer noch die tödliche Gleichgültigkeit der Eltern gegenüber dem Leiden und Sterben ihrer kleinen Tochter. Der eigentliche Skandal besteht darin, dass eine Jugendamtsmitarbeiterin in der Wohnung von Familie Küstritz regelmäßig ein und aus ging. Um die Mutter bei Nadines Betreuung zu »unterstützen«, nahm die Sozialpädagogin Helen Miller einmal pro Woche im Wohnzimmer von Familie Küstritz Platz und ließ sich die kleine Nadine vorführen.
    »Unsere anderen Kinder schlafen«, erklärten die Eltern jedes Mal, wenn die Besucherin einen Blick ins Kinderzimmer werfen wollte. Tatsächlich war von den fünf Geschwisterkindern kein Laut zu hören. Doch die erfahrene Beamtin schöpfte keinen Verdacht.
    Aus der Fallakte hätte sie ersehen können, dass Jo Küstritz, der Vater, als Pfleger in einer Senioreneinrichtung arbeitete – so konnte er sich leicht Beruhigungsmittel verschaffen, um die Kinder rechtzeitig zu jedem Besuch von Helen Miller ruhigzustellen. Selbstverständlich kündigte die Frau vom Jugendamt sich immer vorher schriftlich an, »um die Beziehung zu den Eltern nicht zu belasten«.
    Unbelastet vom realen Leid der Kinder in den Nachbarzimmern saß sie also jede Woche im halbwegs aufgeräumten Wohnzimmer und lobte die Eltern, weil die sich so liebevoll um Nadine kümmerten. Machte das kleine Mädchen nicht die erfreulichsten Fortschritte? Für ihre zwei Jahre bewegte sich Nadine sogar erstaunlich koordiniert.
    Helen Miller war mit sich selbst und ihrem Schützling sehr zufrieden. Dass sie bei all ihren Besuchen die wirkliche Nadine nie zu sehen bekommen hatte, wurde der wackeren Wächterin des Kindeswohls erst aufgrund unseres Gutachtens klar.
    »Nadine Küstritz hat beidseitig Klumpfüße«,
gaben wir zu Protokoll.
»Bei dem Kind, das der
JA
-Mitarbeiterin vorgeführt wurde, wird es sich um ein Geschwisterkind gehandelt haben. Nadine ist in ihrem Leben garantiert niemals aufrecht gegangen.«
    Offenbar konnte die Frau vom Jugendamt die Kinder der Familie Küstritz nicht auseinanderhalten – desto unbelasteter erfreute sie sich an den vermeintlichen Entwicklungsfortschritten der dreijährigen Schwester von Nadine. Währenddessen schlief ihr eigentlicher Schützling nebenan auf dem nackten Lattenrost eines kotverschmierten Sperrmüllbettes, von Beruhigungsmitteln betäubt während jedes ihrer Besuche – und bereits sterbenskrank, als die herz- und gedankenlose

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