Deutschland misshandelt seine Kinder (German Edition)
sehen bekommen, in aller Regel unerfahrene Berufsanfänger sind.
Ein Systemfehler, sollte man meinen, der sich leicht korrigieren ließe. Das Jahresbudget des deutschen Kinderschutzes (ca. 7 , 5 Milliarden Euro bereits im Jahr 2009 ) ist höher als das gesamte Bruttoinlandsprodukt von Staaten wie Madagaskar oder der Mongolei! Da müsste es doch möglich sein, die verfügbaren Gelder so zu verteilen, dass die an vorderster Front tätigen Helfer angemessen vergütet werden. Erst dann nämlich könnte man erfahrene Fachkräfte gewinnen, die kompetent und mit dem nötigen Selbstbewusstsein für die schutzbedürftigen Kinder eintreten.
Die absurden Auswirkungen dieser Fehlkonstruktion werden noch deutlicher, wenn man sie auf andere Lebensbereiche überträgt. Ein Formel- 1 -Rennwagen kann von genialen Ingenieuren konstruiert und von hochprofessionellen Mechanikern punktgenau eingestellt worden sein – wenn am Steuer »aus Kostengründen« ein Newcomer sitzt, der bis dahin nur auf Go-Kart-Strecken gestartet ist, wird der Superbolide auf den hintersten Rängen landen.
Im Gespräch mit uns hat eine erfahrene Kinderschutzfachkraft das gleiche Problem poetischer umschrieben: Die meisten Sozialarbeiter, die sich im deutschen Kinder- und Jugendschutz engagieren, haben sich während ihres Studiums vorgestellt, dass sie einmal als Ritter mit glänzender Rüstung kleine Kinder retten würden. Doch dann mussten sie erkennen, dass die Rüstung rostig ist und das Schwert, mit dem sie die Kinder verteidigen wollen, stumpf und von Rost zerfressen.
Ausgebrannt und abgestumpft: die »Wächter des Kindeswohls«
Nicht nur in Berlin herrscht in vielen Jugendämtern permanenter Personalnotstand. Die Hälfte der Stellen ist nicht besetzt, auf den anderen 50 Prozent sitzen altgediente Beamte kurz vor der Pensionierung oder ausgebrannte Sachbearbeiter, die ständig krankgeschrieben sind.
Die Gründe für diesen kollektiven Burn-out liegen auf der Hand: Die Zahl der Fälle, um die sich die Jugendämter kümmern müssen, steigt Jahr für Jahr sprunghaft an. Mehr als 2900 Kinder wurden von Berliner Jugendämtern allein im Jahr 2012 in Obhut genommen – eine Verdoppelung der Fallzahlen in lediglich fünf Jahren (
Berliner Zeitung,
5 . 7 . 2012 ). Kaum weniger alarmierend sind die Vergleichsdaten für ganz Deutschland: Bundesweit nahmen Jugendämter 2012 rund 40 200 Minderjährige in Obhut – gegenüber »nur« etwa 28 000 im Jahr 2007 . In der weit überwiegenden Mehrzahl der Fälle ging die akute Kindeswohlgefährdung von den Eltern aus (
Die Welt,
7 . 8 . 2013 ).
Zu jedem neuen Kinderschutzfall erstellt der Tagesdienst im zuständigen Jugendamt eine Akte und leitet sie an einen Sachbearbeiter weiter. Doch auf dessen Schreibtisch stapeln sich sowieso schon die Fallakten: In Berliner Problembezirken ist es eher die Regel als die Ausnahme, dass jeder einzelne Jugendamtsmitarbeiter für 120 oder sogar 150 Fallakten zuständig ist.
Unter solchen Bedingungen kann sich niemand auf Dauer mit der nötigen Sorgfalt und Sensibilität um »seine« Schützlinge kümmern. Die unvermeidlichen Folgen dieser permanenten Überforderung sind vielmehr Abstumpfung und Zynismus.
Der weitaus größte Teil der Ressourcen wird – zu Recht – für die akuten Kinderschutzfälle aufgewendet. Entsprechend verfügen die Teams für Akutfälle über genügend Personal und finanzielle Mittel. Die Sachbearbeiter für langfristige Fälle hingegen arbeiten meist unter unzumutbaren Bedingungen – unzumutbar für die Beamten selbst, aber mehr noch für die Kinder und Jugendlichen, denen sie zur Seite stehen sollten.
Unter diesen Umständen hätte die junge Familienhelferin Jessica Stiglitz dem zuständigen Sachbearbeiter im Jugendamt noch so eindringlich von den blauen Flecken ihrer Schützlinge berichten können – der chronisch überlastete Axel Pattlow hätte höchstwahrscheinlich nur müde abgewinkt: »Blaue Flecken? Was glauben Sie, was ich hier alles auf dem Tisch habe! Dagegen sind die Verhältnisse bei den Malowskys die reinste Idylle. Und in vier Wochen haben wir sowieso einen Termin mit der Familie. So lange kann das doch sicher warten.«
Erfahrene Familienhelfer mit dem entsprechenden Stehvermögen hätten hier vermutlich widersprochen: »Das kann auf keinen Fall vier Wochen warten! Das hier ist eine Kinderschutzmeldung! Die Kinder sind akut gefährdet!« Daraufhin hätte Axel Pattlow reagieren müssen, aber solchen Widerspruch bekommen er
Weitere Kostenlose Bücher