Deutschland misshandelt seine Kinder (German Edition)
Arbeitgebern wie diese selbst von den Jugendämtern, die die lukrativen Aufträge vergeben. Gewiss wollen sie den gefährdeten, misshandelten oder vernachlässigten Kindern helfen, jedenfalls die überwiegende Mehrheit von ihnen – deshalb haben sie ja diesen aufreibenden und schlecht bezahlten Beruf gewählt. Aber gleichzeitig müssen sie die wirtschaftlichen und sozialpolitischen Interessen »ihres« Trägers berücksichtigen, der auf dem Wohlfahrtsmarkt mit anderen Anbietern um Aufträge ringt. Und diese Aufträge erhält eben nicht der Träger, dessen Konzept den Interessen der Kinder am besten entspricht, sondern derjenige, der die Erwartungen des Auftraggebers erfüllt.
Für den eigentlichen Zweck unseres Kinderschutzsystems ist es also durchaus dienlich, dass die Helfer überwiegend so unerfahren und in einer derart schwachen Position sind: So lassen sie sich von den Sachbearbeitern im Jugendamt lenken, und so behalten sie auch die Interessen »ihres« Trägers im Blick.
Bei den Trägern handelt es sich um höchst unterschiedliche Akteure: Kirchliche Sozialkonzerne wie
Caritas
oder
Diakonisches Werk,
die als Vereine organisiert sind, konkurrieren mit Stiftungen und (meist kleineren) »gemeinnützigen« GmbHs wie
Jugendwohnen im Kiez
oder
Independent Living.
Offiziell werden die Träger vom Jugendamt zunächst beauftragt, während einer Clearingphase (drei bis sechs Monate) »ergebnisoffen zu prüfen«, wo das betreffende Kind nach einem Misshandlungsvorfall untergebracht werden soll – weiterhin in seiner Familie oder etwa bei Pflegeeltern. Doch für alle Beteiligten ist klar, welche Erwartung sich hinter dieser Formulierung verbirgt: Die eingeleiteten Hilfsmaßnahmen sollen bewirken, dass das Kind in der Familie bleiben kann – und zwar möglichst ab sofort und dauerhaft. Der zuständige Beamte will den Fall vom Tisch haben beziehungsweise die betreffende Akte zumindest auf dem Stapel für Langfristfälle ohne akuten Handlungsbedarf ablegen können.
Dagegen will er auf gar keinen Fall, dass die »ergebnisoffene Prüfung« zu der Empfehlung führt, das Kind von seiner Familie zu trennen. Da spielt es dann kaum eine Rolle, ob die leiblichen Eltern Junkies, verwahrlost, geistesgestört und/oder wegen Kindesmisshandlung oder sonstiger Körperverletzungsdelikte einschlägig vorbestraft sind: Die eigenen Eltern kann angeblich selbst die beste Pflegefamilie nicht ersetzen.
Wie eine Monstranz tragen viele Jugendamtsmitarbeiter diese Überzeugung vor sich her. Dabei könnten sie jeder Kindesmisshandlungsstatistik das genaue Gegenteil entnehmen. Im Leben der Kinder gibt es genau zwei Menschen, die für ihre leibliche und seelische Gesundheit potenziell um ein Vielfaches gefährlicher sind als der gesamte Rest der Menschheit: ihre Väter und Mütter beziehungsweise deren jeweilige Lebensgefährten.
Außerdem sind die Hilfsmaßnahmen bereits in der Clearingphase ausgesprochen teuer: Nicht selten belaufen sie sich auf 150 bis 180 Euro pro Tag. So viel Geld will der Sachbearbeiter nicht für eine Maßnahme ausgegeben haben, die sich am Ende als Sackgasse erweist. Doch mit der unausgesprochenen Erwartung, dass die »ergebnisoffene Prüfung« das gewünschte Ergebnis zeitigen möge, rennt er bei den Trägern ohnehin weit offene Türen ein.
»Überforderte« Eltern so zu »unterstützen«, dass die Kinder in den Familien bleiben können, ist schließlich das ureigene Geschäft der »gemeinnützigen« Vereine, Stiftungen und Unternehmen. Müsste ein Träger am Ende der »Clearingphase« erklären, dass das betreffende Kind besser von der Familie getrennt werden sollte, dann hätte er nicht nur einen Klienten – und damit einen beträchtlichen Umsatzposten – verloren, sondern auch die Erwartungen seines Auftraggebers enttäuscht. Überdies hätte er seine eigene Position als Akteur auf dem Markt der Familiendienstleistungen beschädigt: Dieser basiert ja auf dem vollmundigen Versprechen der Träger, dass sie Familien »stabilisieren« und Misshandlung dauerhaft verhindern könnten, indem sie die Eltern vor »Überforderung« bewahrten.
Den einzelnen Helfern »an der Front« sind diese Abhängigkeiten mehr oder weniger bewusst. Sie sind das ausführende Organ, das die stillschweigenden Erwartungen der Jugendämter und ihrer Träger erfüllen muss. Doch sehr häufig decken sich diese Vorgaben ohnehin mit den Erwartungen der jungen Sozialarbeiter an sich selbst: Viele von ihnen wurden als Kinder
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