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Deutschland misshandelt seine Kinder (German Edition)

Deutschland misshandelt seine Kinder (German Edition)

Titel: Deutschland misshandelt seine Kinder (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tsokos , Saskia Guddat
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misshandelt – das legen jedenfalls Gespräche nahe, die wir mit engagierten Helfern geführt haben. Daher sind sie von dem Drang erfüllt, »ihrer« (Klienten-)Familie die Hilfe zu bieten, die sie selbst in ihrer Kindheit so schmerzlich vermisst haben. So können sie die eigene Ohnmachtserfahrung mit der Selbstinszenierung als »ritterliche Kinderretter« überschreiben. Derlei biographische Belastungen vieler Sozialpädagogen könnten zumindest teilweise erklären, warum so viele junge und idealistische Helfer gegenüber dem Leid ihrer Schützlinge blind und taub scheinen: Sich einzugestehen, dass sie als »Ritter« versagt haben, würde ihre eigene traumatische Ohnmachtserfahrung reaktivieren. Hinzu kommen ihre wirtschaftliche Abhängigkeit von den Trägern, die mangelnde Berufserfahrung und meist gänzlich fehlende rechtsmedizinische Schulung.
    Da die Interessen aller Beteiligten (mit Ausnahme der Kinder) so perfekt übereinstimmen, kann es jedenfalls nicht erstaunen, dass das »ergebnisoffene Clearing« fast immer zu dem vorab stillschweigend vereinbarten Ergebnis führt: Die Helfer empfehlen, das Kind bei seinen Eltern zu belassen, mögen die es auch misshandelt haben und mehr oder minder erziehungsunfähig sein. In der Folge werden die Helfer natürlich alles tun, um – nicht zuletzt vor sich selbst – den Anschein zu wahren, dass sie die Dinge unter Kontrolle haben, dass »ihre« Kinder geschützt sind und »ihre« Familie auf einem guten Weg ist.
    Wenn sie sich die Verhältnisse schönreden, wegschauen, den verharmlosenden Erklärungen der Eltern bereitwillig glauben, dann geschieht dies also meist nicht aus mangelndem Engagement, sondern quasi aus einem inneren Notstand. Sie können bereits vor sich selbst nicht zugeben, dass sich all die Hämatome und Knochenbrüche ihrer kleinen Schützlinge vielleicht doch nicht so harmlos erklären lassen. Also schweigen sie weiter, beschönigen, schauen weg und versichern ihren Vorgesetzten und den Verantwortlichen im Jugendamt, dass bei ihren Klienten alles bestens laufe.
    Doch höchstwahrscheinlich hört so mancher Helfer zumindest in seinen Albträumen die Zeitbombe ticken, lange bevor sie in der Realität explodiert.

Unter den Augen der Helfer
    Scarlett ist neun Monate alt, als sie in die Kinderklinik gebracht wird. Der Vater des kleinen Mädchens hat die Rettung angerufen und erklärt: »Meine Tochter atmet nicht mehr.«
    Die Mutter heißt Lilly Hollbrück, der Vater trägt den klangvollen Namen Kristian Halberstedt. Beide sind noch Teenager, gerade siebzehn Jahre alt. Kristian stammt aus Ecuador und wurde dort von seinen wohlhabenden Eltern adoptiert. Er hat die Statur eines Schwergewichtboxers: fast zwei Meter groß, 120  Kilo schwer. Neben ihm sieht Lilly winzig aus. Und Baby Scarlett wie eine Spielzeugpuppe.
    Schon die ersten bildgebenden Untersuchungen zeigen, dass der Säugling einen Schädelbruch hat und sein Gehirn so gut wie nicht mehr durchblutet wird. Die Klinik bittet uns um ein rechtsmedizinisches Gutachten. Wir untersuchen das Mädchen und finden die typischen Symptome eines Schütteltraumas (siehe auch Kapitel 4 ): Blutungen zwischen harter und weicher Hirnhaut, schwere Hirnschädigungen, Einblutungen in den Augenhintergrund und einen Anschlag des kindlichen Kopfes gegen einen harten Gegenstand
(Shaken Impact).
    Den neuesten medizinischen Vorschriften entsprechend ist Scarlett in der Klinik sofort für 72  Stunden gekühlt und in ein künstliches Koma versetzt worden. Während dieses Zeitraums soll so die Regeneration des Gehirns unterstützt werden. Doch für Scarlett kommt jede Hilfe zu spät: Sie hat bereits keine Schutzreflexe mehr (z.B. Lidschlussreflex bei Berührung und Pupillenreflex bei Lichteinwirkung), ihr Gehirn ist irreversibel zerstört. Nach Ablauf der 72 -Stunden-Frist leiten die Klinikärzte daher die Hirntoddiagnostik ein – ein Prozess, der allerdings zunächst wieder abgebrochen werden muss, da der Säugling noch zu viele Beruhigungsmittel im Blut hat.
    Die computertomographische Untersuchung lässt auch bereits erkennen, warum das Baby seine Umwelt durch unaufhörliches Schreien und Quengeln genervt haben wird: Es hat nicht nur einen Schädelbruch, sondern überdies einen älteren Bruch der Unterarmknochen einseitig. Scarlett muss wochenlang an quälenden Schmerzen gelitten haben.
    Aufgrund unseres Gutachtens wird Kristian Halberstedt dem Haftrichter vorgeführt. Der Staatsanwalt wirft dem jungen Vater schwere

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