Deutschland misshandelt seine Kinder (German Edition)
anzuerkennen. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Weil für viele Menschen offenbar buchstäblich eine Welt zusammenbrechen würde, wenn sie sich eingestehen müssten, dass die Familie oftmals eben nicht der sichere und friedliche Hort ist, sondern eine Hölle für wehrlose Kinder.
Beispiel
Carlo Hinzig:
Der 14 Monate alte Junge wird mit schweren Verbrennungen an der rechten Handfläche in die Klinik gebracht. Wir untersuchen das Kind und stellen fest, dass seine Hand auf die glühende Herdplatte gelegt und heruntergedrückt wurde. Außerdem hatte er Verbrennungen an allen Fingernägeln der rechten Hand – sie muss also zweimal auf die Herdplatte gedrückt worden sein.
Als Täterin kommt nur die Mutter des Jungen in Frage. Blond und dezent gekleidet, sitzt sie neben ihrer Verteidigerin auf der Anklagebank.
Nachdem wir unsere Befunde vorgetragen haben, wirken die beiden Schöffinnen, zwei ältere Damen, geradezu perplex. »Das meinen Sie doch nicht ernst!«, sagt die eine zu uns. Und die zweite ergänzt: »Das kann die Mama nicht gemacht haben! Schauen Sie doch mal, was das für eine liebe junge Frau ist!«
Die liebe Mutter hat denn auch eine ganz andere Geschichte parat: Als sie leider für einen Moment nicht aufgepasst habe, sei Carlo zum Herd gekrabbelt, habe sich hochgezogen und die Herdplatte eingeschaltet. Dann sei das vierzehnmonatige Kleinkind nach vorne gefallen – seltsamerweise mit ausgestrecktem Arm. Trotz vorheriger akrobatischer Kletterleistungen sei Carlo leider nicht imstande gewesen, sein Gewicht so zu verlagern, dass er seine Hand von der Herdplatte wegbekam.
Zwei chirurgische Sachverständige bestätigen unsere Befunde, doch die Schöffinnen bleiben unbeeindruckt: Für sie ist es schlicht unvorstellbar, »dass Mütter so etwas machen«. Also kann es sich nur um einen tragischen, wenn auch rätselhaften Unfall gehandelt haben.
Die »liebe junge Frau« kommt mit zwei Jahren auf Bewährung davon – und verlässt den Gerichtssaal mit ihrem Opfer in den Armen.
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4 Freispruch zweiter Klasse: Das Gesetz schützt die Täter
In der Mehrzahl der Kindesmisshandlungsfälle hat die Staatsanwaltschaft keinen Beschuldigten, den sie anklagen kann. Meist nämlich kommen beide Eltern als Misshandler in Betracht – es sei denn, einer von ihnen war zum Tatzeitpunkt mit dem Kind allein oder der andere belastet ihn mit seiner Aussage. Wird dennoch angeklagt, so enden die Gerichtsverhandlungen oftmals mit einem Freispruch »zweiter Klasse« für den oder die Angeklagten.
Das Strafgesetzbuch kennt zwar keinen Klassenunterschied bei Freisprüchen, in der juristischen Praxis aber ist er gang und gäbe. Bei einem Freispruch »erster Klasse« kann das Gericht nicht nachweisen, dass die Tat überhaupt stattgefunden hat. Bei Anklagen wegen Kindesmisshandlung folgen die Richter hier also der Argumentation der Verteidigung, dass die Verletzungen des Kindes auf ein Unfallgeschehen zurückzuführen seien. Die Angeklagten verlassen demnach den Gerichtssaal mit blütenreiner Weste.
Zumindest in Berlin kommen Freisprüche »erster Klasse« in Kindesmisshandlungsprozessen kaum noch vor. Das LKA 125 , zuständig für Gewaltdelikte an Schutzbefohlenen und Kindern in der Bundeshauptstadt, arbeitet bei der Ermittlung eng mit unserem Institut zusammen. Wenn Anklage erhoben wird, kann sich die Staatsanwaltschaft auf unser Gutachten stützen, aus dem eindeutig hervorgeht, dass die Misshandlung stattgefunden hat.
Trotzdem geschieht es relativ häufig, dass die Angeklagten freigesprochen werden – nur eben nicht wegen erwiesener Unschuld, sondern weil das Gericht dem oder den Angeklagten die Tat nicht sicher nachweisen kann. Meist gibt es in diesen Fällen zwei (oder mehr) potenzielle Täter. Wenn beide ihre Unschuld beteuern und sich gegenseitig entlasten, streicht das Gericht fast immer die Segel: »Im Zweifel für den/die Angeklagten.«
So kommt es zu den leider keineswegs seltenen Freisprüchen »zweiter Klasse«. Alle Beteiligten wissen, dass die Tat stattgefunden hat: Das Kind wurde nicht etwa durch einen Unfall, sondern durch absichtlich zugefügte körperliche Gewalt geschädigt – oftmals für sein Leben. Alle Beteiligten wissen in der Regel auch, dass nur einer der beiden Angeklagten (meist Mutter und Vater bzw. Lebenspartner/in) als Täter in Frage kommt. Trotzdem werden sie freigesprochen – nicht wegen erwiesener Unschuld, sondern weil die Tat keinem der Angeklagten sicher zugeordnet werden
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