Deutschland misshandelt seine Kinder (German Edition)
Verletzung und die Schmerzen ihres Babys gewiss nicht verborgen bleiben, aber sie fand offenbar nicht die Kraft, sich gegen ihren Liebhaber zu stellen. Zumindest sorgte sie dafür, dass ihre eigene Mutter auf Scarlett aufpasste, wenn sie selbst keine Zeit hatte, damit ihr Freund nicht mit dem Baby allein blieb. An dem Tag jedoch, als Scarlett in den Tod geschüttelt wurde, musste Lilly zur Berufsschule gehen – und ihre Mutter war ausnahmsweise verhindert. So war der Vater für mehrere Stunden mit dem Baby allein – die letzten Stunden in Scarletts kurzem Leben.
Kristian Halberstedt muss Scarlett am Brustkorb gepackt, geschüttelt und mit dem Kopf gegen einen festen Gegenstand oder eine Wand geschlagen haben – nur so lassen sich die Trias der Schütteltrauma-Symptome und der Schädelbruch erklären. Doch er gibt lediglich das Schütteln zu. Auch von dem Armbruch weiß er angeblich nichts.
Damit ist der Kindesmisshandler in bester Gesellschaft mit den vermeintlichen Kinderschützern im Mutter-Kind-Heim, die nicht sehen wollten, dass vor ihren Augen einer ihrer Schützlinge zu Tode misshandelt wurde. Die das Offensichtliche vielleicht auch nicht sehen
konnten,
blockiert durch eigene traumatische Kindheitserfahrungen, durch den immensen Erwartungsdruck seitens ihres Trägers und des Jugendamtes – und durch ein mächtiges gesellschaftliches Tabu.
Kinder schlagen, verbrennen, verbrühen, einsperren, demütigen, hungern lassen, ihnen die Knochen brechen, sie zu Tode schütteln: »So etwas machen Eltern doch nicht.«
Statistisch gesehen, das sei hier nochmals betont, trifft das exakte Gegenteil zu. Kein Mensch auf der Welt (mit sehr seltenen Ausnahmen) tut »so etwas« einem Kind an – außer die eigenen Eltern. Jedes »Kinderschutzsystem«, das dieses elementare Faktum verleugnet, muss unvermeidlich immer wieder versagen, egal wie viele Milliarden Euro an Steuergeldern hineingepumpt werden. Schlimmer noch: Es begünstigt die Täter, indem es diesen ihre Opfer immer wieder zuführt. Weil Kindern ja nichts Besseres passieren kann, als im Schoß ihrer Familien zu leben.
Und zu sterben?
Absichtlich ahnungslos?
Nicht nur Jugendamtsmitarbeiter und Familienhelfer fallen immer wieder auf die meist haarsträubenden Geschichten herein, mit denen Misshandler die blauen Flecken und Knochenbrüche, Brand- und Brühwunden ihrer kindlichen Opfer zu erklären versuchen. Auch die Ärzte in den Kliniken, Staatsanwälte, Richter und Schöffen in Kindesmisshandlungsprozessen legen vielfach eine erschütternde Ignoranz an den Tag. Auf das Schweigen der niedergelassenen Kinderärzte, ihre traditionsreiche Verleugnung des Leidens ihrer kleinen Patienten, kommen wir noch ausführlich zu sprechen (siehe Kapitel 5 ).
Wenn nahezu alle Akteure des deutschen Kinderschutzsystems – von den Helfern über die Ärzte bis hin zu Strafverfolgern und Richtern – selbst offensichtliche Hinweise auf Kindesmisshandlung übersehen oder missdeuten, dann hat diese kollektive Fehlleistung gewiss auch mit mangelnder rechtsmedizinischer Schulung zu tun. Dieser Missstand lässt sich durch entsprechende Fortbildungsmaßnahmen beseitigen, und nach unserer Überzeugung muss das auch dringend geschehen (siehe Kapitel 11 ).
Doch der objektive Wissensmangel der Akteure ist nur die sichtbare Spitze des Eisbergs – das tiefere, weit schwerer wiegende Problem ist das subjektive Nichtwissenwollen, die kollektive Blockade durch ein noch immer weithin wirksames Denkverbot.
Der Gedanke ist in der Tat schwer zu ertragen: Jährlich werden in Deutschland etwa 200 000 Kinder misshandelt, folglich laufen Hunderttausende Gewaltverbrecher in unserem Land frei herum – und in der weit überwiegenden Mehrzahl der Fälle handelt es sich bei den Misshandlern um Mutter und/oder Vater der kleinen Opfer. Menschlich ist es durchaus verständlich, dass gerade diejenigen, die an vorderster Front mit Kindesmisshandlungsfällen zu tun haben, ihre Augen und Ohren vor dieser düsteren Wahrheit verschließen.
Auch deshalb sei hier noch einmal betont: Wir stellen keineswegs »die Eltern« unter Generalverdacht – ganz im Gegenteil. Die allermeisten Väter und Mütter beziehungsweise ihre Lebensgefährtinnen und -gefährten kümmern sich liebevoll um die ihnen anvertrauten Kinder. Die große Mehrheit von ihnen verfügt über die elementaren elterlichen Fähigkeiten, die wir in Kapitel 1 beschrieben haben. Aber wenn Kinder misshandelt werden, dann handelt es sich bei den
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