Deutschland misshandelt seine Kinder (German Edition)
überhaupt. Zwei Drittel bis drei Viertel aller Säuglinge, die vor dem zweiten Lebensjahr infolge einer Misshandlung versterben, erliegen tödlichen Verletzungen des Gehirns. Und diese wiederum werden weit überwiegend durch das Schütteltrauma hervorgerufen.
Zombie-Baby
Als Jethro mit der Feuerwehrambulanz in die Notaufnahme der Klinik gebracht wird, hält Dr. Dirk Müller den Atem an. Der erfahrene Arzt ahnt sofort, was mit dem kaum vier Monate alten Säugling passiert ist.
Jethro zeigt kaum noch Lebenszeichen. Sein Herz schlägt unregelmäßig, seine Augen sind blutunterlaufen. Die Unterarme sind beide gebrochen. Darüber hinaus kann Dr. Müller keine äußeren Verletzungen entdecken.
Die Computertomographie des Kopfbereichs bestätigt ihn in seinem Verdacht: Jethro hat großflächige subdurale Hämatome. Zusammen mit den retinalen Blutungen und dem Fehlen gravierender äußerer Verletzungen am Kopf sind sie ein klarer Hinweis auf ein Schütteltrauma.
Der Säugling wird eilends auf die Kinderintensivstation gebracht. Als Folge der Hirnverletzung arbeitet sein Herz nicht mehr regelmäßig, und er atmet nicht mehr von allein. Die Netzhaut beider Augen beginnt sich abzulösen. In den folgenden Tagen wird Jethro erblinden.
Die Zerstörung des Gehirngewebes ist unumkehrbar. So wird der Junge, falls er nicht in den nächsten Tagen verstirbt, für den Rest seines Lebens an spastischen Lähmungen und Krampfanfällen leiden. Er wird niemals richtig sprechen oder gehen lernen. In seiner Entwicklung wird er nie über das Stadium eines Kleinkindes hinausgelangen.
Ein brutaler Angriff von wenigen Sekunden hat genügt, um ein ganzes Leben zu zerstören. Fünf oder zehn Sekunden, in denen der Säugling am Brustkorb gepackt und wie rasend hin und her geschüttelt worden ist.
Dr. Müller verständigt das Jugendamt und das LKA . Unser Gutachten bestätigt seine Diagnose.
Die Ermittlungen des LKA 125 ergeben, dass Jethros Vater gegen 13 Uhr die Feuerwehr angerufen hat. Er heißt René Masunke, ist 25 Jahre alt und als Straßenarbeiter im Tiefbau beschäftigt. Zusammen mit seiner Lebensgefährtin Nicole Güstrow wohnt er in einer Drei-Zimmer-Wohnung in einem Berliner Brennpunktviertel.
Bei der Vernehmung gibt René Masunke an, dass er die Feuerwehr verständigt habe, »weil sich Jethro plötzlich komisch benommen hat. Er hat die ganze Zeit in seiner Wiege gelegen, und plötzlich hat er angefangen zu zucken und um sich zu schlagen. Seine Augen sind ganz rot geworden, es war richtig unheimlich – wie in einem Zombiefilm.«
Kriminaloberkommissarin Marion Henske glaubt ihm kein Wort. »Und die Unterarme hat er sich wohl auch selbst gebrochen?«, fragt sie den Kindsvater.
»Das muss passiert sein, als er wie irre um sich geschlagen hat«, behauptet Masunke. »Ich habe den Kleinen jedenfalls nicht angefasst.«
René Masunke ist ein Mann von beeindruckender Statur. Breite Schultern, Hände so groß wie Schaufeln. Man sieht ihm an, dass er jeden Tag harte körperliche Arbeit leistet. Und dass er seine Fäuste nicht immer zu friedlichen Zwecken einsetzt.
Eindrucksvoll ist auch René Masunkes Polizeiakte. Allein in den letzten zwei Jahren wurde rund ein Dutzend Anzeigen wegen diverser Körperverletzungsdelikte gegen ihn erstattet. Kindesmisshandlung ist allerdings nicht dabei.
Auch Nicole Güstrow wird im Landeskriminalamt vernommen. Die Kindsmutter ist 23 Jahre alt und hat neben Jethro noch eine siebenjährige Tochter namens LeeLee.
»Ich war mit LeeLee in ihrer Schule«, sagt sie aus. »Normalerweise kümmere ich mich lieber selbst um den Kleinen, aber LeeLee wollte unbedingt, dass ich mit auf das Sommerfest in ihrer Schule gehe. Also habe ich René gebeten, für ein paar Stunden auf Jethro aufzupassen.«
»Und was hat Ihr Mann dazu gesagt?«, hakt die Oberkommissarin nach.
»Na, was schon«, antwortet Nicole Güstrow und spielt nervös an ihrem Nasenpiercing herum. »Er hat es nicht so mit Babys, verstehen Sie? Die machen ihm schlechte Laune, sagt er immer. Aber im Grunde ist René ein guter Kerl. Und LeeLee und Jethro fasst er sowieso nur mit Samthandschuhen an.«
Marion Henske spürt, dass die junge Frau ihren eigenen Worten nicht glaubt. Aber das bedeutet noch lange nicht, dass Nicole Güstrow auch bereit ist, gegen ihren Lebensgefährten auszusagen. Die Oberkommissarin weiß aus Erfahrung, dass sie bei der Befragung behutsam vorgehen muss.
»Wie war das genau, als Sie und LeeLee zur Schule gegangen
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