Deutschland misshandelt seine Kinder (German Edition)
allerdings entsprechend geschult sein. Bei konkretem Verdacht auf körperliche Kindesmisshandlung müssten sie die kleinen Patienten in Kliniken mit interdisziplinären Kinderschutzgruppen überweisen. Dort könnte durch gezielte Diagnostik geklärt werden, ob das betreffende Kind tatsächlich misshandelt wurde oder den Verletzungen eine Krankheit mit ähnlicher Symptomatik zugrunde liegt.
Von diesen idealen Verhältnissen sind wir jedoch Lichtjahre entfernt. Bei Prävention, Diagnostik und Behandlung von Kindesmisshandlung sind die niedergelassenen Ärzte das erste und entscheidende Glied in der Kette. Doch »Misshandlungsmedizin« ist für viel zu viele Kinder- und Jugendärzte hierzulande noch immer Neuland.
Das sieht vor allem im angloamerikanischen Sprachraum ganz anders aus. Dort spielt die Misshandlungsmedizin in Forschung und Lehre mittlerweile eine bedeutende Rolle. In Deutschland dagegen haben viele Kinderärzte noch nicht einmal mitbekommen, dass sie sich von Rechtsmedizinern bei Verdacht auf Kindesmisshandlung konsiliarisch beraten lassen können.
Doch wir Rechtsmediziner allein können diese Lücke ohnehin nicht schließen. Außerhalb der Großstädte gibt es in Deutschland nur wenige rechtsmedizinische Institute und damit keine flächendeckende rechtsmedizinische Untersuchungsmöglichkeit für Gewaltopfer. Und aufgrund knapper öffentlicher Kassen und fahrlässiger politischer Entscheidungen gibt es bei uns sogar immer weniger Rechtsmediziner.
Auch deshalb führt kein Weg daran vorbei: Die Kinder- und Jugendärzte müssen sich rechtsmedizinisch weiterbilden, damit sie unfall- von misshandlungstypischen Verletzungen zu unterscheiden lernen.
Doch das allein reicht nicht aus, um die Ärzte bei Verdacht auf Misshandlung tatsächlich zum Handeln zu bewegen. Viele Ärzte, ob rechtsmedizinisch informiert oder nicht, neigen nun einmal dazu, körperliche Gewalt gegen Kinder zu bagatellisieren – oftmals sogar mit der offenherzigen Begründung: »Mir hat es auch nicht geschadet.«
Solche entlarvenden Auftritte von Kinderärzten erleben wir leider keineswegs selten. In Kapitel 3 haben wir die Horrorgeschichte des dreijährigen Felix erzählt: Der Junge wurde von der sadistischen Lebensgefährtin seines Vaters vorsätzlich mit heißem Wasser verbrüht. Bei der rechtsmedizinischen Untersuchung von Felix und seiner größeren Schwester Alina stellten wir fest, dass beide Geschwister seit Jahren immer wieder wegen diverser Verletzungen im Krankenhaus gewesen waren. Ein großer Teil dieser Verletzungen stammte aus der Zeit, als der Vater noch nicht mit der sadistischen Freundin, sondern mit der Mutter von Alina und Felix zusammenlebte.
Vor Gericht erläuterten wir diese Befunde – und der langjährige Kinderarzt der Familie widersprach entschieden. An unseren Ergebnissen sei kein Körnchen Wahrheit, ereiferte sich Dr. Markus Weigel, ein routinierter Arzt und sichtlich »von altem Schrot und Korn«.
Doch am nächsten Verhandlungstag erlebte er eine faustdicke Überraschung. Alinas und Felix’ Betreuer hatten mittlerweile das Vertrauen der Geschwister gewonnen. Beide Kinder hatten begonnen, ihnen von Misshandlungen zu erzählen, die sie lange vor dem Auftauchen ihrer neuen Stiefmutter erlitten hatten. Ihre Mutter und ihr Vater hatten ihnen über Jahre hinweg immer wieder in den Bauch und gegen den Kopf getreten.
Als der Kinderarzt nun vor Gericht die Aussage der Betreuer von Felix und Alina hörte, blieb ihm der Mund vor Staunen weit offen stehen. Ihm hatten die Eltern immer irgendwelche Lügengeschichten über angebliche Spielunfälle erzählt, um die Verletzungen zu erklären – und er hatte ihnen aufs Wort geglaubt.
Doch der abgebrühte Mediziner fasste sich schnell. Als ihn die Richterin zu einer Stellungnahme aufforderte, bekundete er: »Ich bin als Kind auch geprügelt worden – und wie Sie sehen, ist aus mir trotzdem etwas geworden.«
Derlei Geständnisse können zwar die mangelnde Empathie für kindliche Gewaltopfer erklären. Sie ändern aber nichts daran, dass solche Kinderärzte vom »alten Schlag« auch weiterhin nicht von sich aus gegen Kindesmisshandlung einschreiten werden – egal, wie gründlich sie rechtsmedizinisch geschult worden sind.
Vielleicht beschleicht einzelne Ärzte ja hin und wieder ein ungutes Gefühl, doch das behalten sie fast immer für sich. Schließlich unterliegen sie der ärztlichen Schweigepflicht. Viele Ärzte glauben wohl tatsächlich, dass dieses gesetzliche
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