Deutschland misshandelt seine Kinder (German Edition)
klären. Zusätzlich haben wir die Krankenakte von Jason Mulanski angefordert.
Auch uns gegenüber benimmt sich der kleine Junge auffallend distanzlos. Er sitzt frei auf dem Untersuchungstisch und streckt uns mit heiterem Lächeln seine Ärmchen entgegen.
»Die streifenförmigen Hämatome an beiden Wangen stammen offenbar von heftigen Ohrfeigen, bei denen die Finger der schlagenden Hand geöffnet waren«,
halten wir für unser Gutachten fest.
»Die ungeformten Hautunterblutungen vor dem linken Ohr und neben dem linken Mundwinkel sind höchstwahrscheinlich durch grobes Zupacken oder durch Kneifen entstanden.«
Ein zwanzig Monate altes Kleinkind, wie von der Mutter behauptet, kann diese Verletzungen auf keinen Fall verursacht haben. Auch die Bissverletzungen, die Jason an Bauch und Oberschenkeln aufweist, stammen definitiv nicht von einem kindlichen Gebiss. Aus dem Abstand zwischen den Eckzähnen
(Intercanin-Abstand)
lässt sich ableiten, ob es sich bei dem Angreifer um einen Erwachsenen oder ein Kind handelt.
»Die geformten Hautunterblutungen am Bauch sowie am rechten Bein weisen auf eine halbscharfe Gewalteinwirkung in Form eines Bisses mit einem menschlichen Gebiss hin«,
protokollieren wir.
»Aufgrund des Intercanin-Abstandes von
3
cm lassen sie sich einem Biss mit einem erwachsenen menschlichen Gebiss zuordnen.«
Jasons Krankenakte enthält unter anderem den Entlassungsbrief der Klinik, die den Jungen fünf Monate vor diesem Vorfall behandelt hat. Es ist dieselbe Klinik, die uns nun um Unterstützung gebeten hat. Die Verletzungen, die die Klinikärzte damals fotografisch dokumentiert haben, sind den aktuellen Verletzungen des Jungen sehr ähnlich. Bereits damals hatte Cheyenne Mulanski angegeben, dass die fünf Monate ältere Summer ihren Sohn gebissen und mit Spielzeugen ins Gesicht geschlagen habe.
Die Vorstellung, dass ein Kleinkind von damals 15 Monaten mit seinem unvollständigen Milchzahngebiss derartige Bissverletzungen verursachen könnte, ist aus rechtsmedizinischer Sicht absurd. Und die Hämatome wurden offenkundig durch kräftige Ohrfeigen hervorgerufen – auch auf den Fotos im Entlassungsbrief ist das Striemenmuster deutlich zu erkennen, das durch die geöffneten Finger der zuschlagenden Hand entsteht.
Doch die Kinderärzte in der Klinik schöpften keinen Verdacht. Cheyenne Mulanski und ihr Freund Pascal Rippstedt erzählten ihnen, Jason sei eben ein »sehr lebhaftes Kind«. Er ziehe sich an allen verfügbaren Möbelstücken hoch und falle dann häufig wieder hin. Außerdem habe seine Spielgefährtin Summer leider die Angewohnheit, ihn zu beißen und ihm Spielzeug auf den Kopf zu hauen.
»Aus ärztlicher Sicht erscheinen diese Erklärungen plausibel«,
vermerkten die Klinikärzte allen Ernstes im Entlassungsbrief.
»Empfohlen wird eine Untersuchung auf Gerinnungsstörung.«
Nur einen Monat später brachte Cheyenne Mulanski ihren kleinen Sohn erneut zur Rettungsstelle des Klinikums. Wieder hatte er streifenförmige Hautunterblutungen im Gesicht, die nach Angaben der Mutter von Jasons »wildem Spielen« mit dem älteren Kleinkind Summer stammten. Außerdem litt er an Krätze.
Die behandelnde Ärztin kümmerte sich hauptsächlich um die Behandlung der unzähligen Bläschen und Pusteln, mit denen der Körper des Kindes an den typischen Stellen bedeckt war: zwischen Fingern und Zehen, an Ellenbogen, Achseln und hinter den Ohren, an Hand- und Fußgelenken, Bauchnabel, Gesäß und Genitalien.
Jason war bereits das dritte Mal in sechs Monaten von Krätze befallen worden. Die hochinfektiöse Hautkrankheit wird durch die Krätzmilbe verursacht, eine Spinnentierart. Die Weibchen bohren winzige Kanäle in die Haut ihrer Opfer und legen darin Kotballen sowie ihre Eier ab. Die Quaddeln und Blasen entstehen durch Immunreaktion, der quälende Juckreiz kann bis zu fünf Wochen anhalten. Am besten gedeiht die Krätze an Orten, an denen viele Menschen in unhygienischer Umgebung zusammenleben. Wiederholtes Auftreten dieser Krankheit gilt als klares Anzeichen für Verwahrlosung bzw. für Vernachlässigung der betroffenen Kinder.
Verwahrlosung in einer betreuten Mutter-Kind-Einrichtung? Das Jugendamt, sollte man meinen, bringt seine Schützlinge dort doch gerade unter, um sie vor Vernachlässigung und Misshandlung zu bewahren. Doch leider sind auch solche öffentlich geförderten Messie-Höhlen keineswegs seltene Ausnahmen.
Die Betreuung der Bewohner erschöpft sich oftmals in gruppentherapeutischen
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