Deutschland misshandelt seine Kinder (German Edition)
stellt sich bei der Obduktion heraus, dass das Kind oder der Jugendliche an einer vererbbaren Krankheit verstorben ist.
»Wir haben noch ein Kind«, wollen die Eltern dann wissen. »Kann ihm das Gleiche passieren?«
Auch hier können wir Rechtsmediziner aufklären, beruhigen und mitunter auch lebenswichtige Ratschläge geben. Bei der fünfjährigen Alissa etwa ergab die Obduktion, dass das Mädchen am
Long-
QT
-Syndrom
verstorben war. Diese Herzkrankheit beruht auf einer Mutation von Kaliumkanälen und kann spontan zu tödlichen Herzrhythmusstörungen führen. Beim Nachgespräch rieten wir den Eltern, Alissas drei Geschwister kardiologisch untersuchen zu lassen. Tatsächlich zeigte sich, dass zwei von ihnen an der gleichen lebensgefährlichen Krankheit litten.
Doch anders als bei ihrer Schwester war das Long- QT -Syndrom bei ihnen rechtzeitig diagnostiziert worden. Den beiden Geschwistern wurde ein Defibrillator eingesetzt, und seitdem können sie ein normales Leben ohne erhöhtes Risiko eines plötzlichen Herztodes führen.
Häufig zeigt sich bei einer Obduktion, dass scheinbare Unfallverletzungen in Wahrheit Misshandlungsfolgen sind. Doch manchmal erleben wir auch das Gegenteil – wie im Fall der kleinen Günes, die mit nur sieben Wochen verstarb. Alles deutete auf ein Schütteltrauma hin. Bei der Obduktion stellten wir jedoch fest, dass das Mädchen an einer
Riesenzellhepatitis
gelitten hatte, einer sehr seltenen inneren Erkrankung, die ganz ähnliche Symptome wie ein schweres Schütteltrauma hervorrufen kann.
Trotz ihrer tiefen Trauer waren die Eltern erleichtert, dass der schreckliche Verdacht von ihnen genommen worden war.
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7 Zum Fressen gern: Verletzung der Aufsichtspflicht
Überall dort, wo ein Kind durch einen Unfall verletzt wird oder stirbt, haben Erwachsene ihre Aufsichtspflicht verletzt – mindestens. Nicht selten verbergen sich hinter diesem Versagen weit schwerwiegendere Delikte.
Rund 60 000 Kleinkinder zwischen einem und vier Jahren werden in Deutschland alljährlich nach (angeblichen) Unfällen stationär behandelt. Etwa 60 Prozent von ihnen haben Sturzverletzungen erlitten. Je kleiner die Kinder, desto größer das Risiko von Schädelverletzungen: Mehr als zwei Drittel der Einjährigen verletzen sich, wenn sie hinfallen, am Kopf (ärzteblatt.de, 7 . 6 . 2013 ).
Doch auch das Risiko von Verletzungen durch Misshandlung oder Vernachlässigung ist bei Kindern bis zum vierten Lebensjahr besonders groß. Gerade
»in den ersten Lebensjahren«,
mahnt Guido Fitze von der Deutschen Gesellschaft für Kinderchirurgie ( DGKCH ),
»müssen wir leider bei jedem Unfall auch daran denken, dass Kindeswohlgefährdung eine Rolle gespielt haben könnte«.
Nach Schätzung der DGKCH ist
»bis zu jeder zweite Knochenbruch im ersten Lebensjahr eine Folge von Kindesmisshandlung«
(ärzteblatt.de, 7 . 6 . 2013 ). Und ein großer Teil der restlichen Frakturen dürfte auf das Konto passiver Kindeswohlgefährdung gehen, also der Verletzung der Aufsichtspflicht.
Für die verletzten Kinder macht es keinen großen Unterschied. Ihre Knochen sind so oder so gebrochen – egal, ob sie geschlagen und getreten wurden oder beispielsweise aus dem Fenster gefallen sind, weil niemand sich um sie gekümmert hat.
Vorsicht, bissige Eltern!
Auch wenn es zunächst kaum glaubhaft klingen mag: Keineswegs selten haben wir es mit Kindern zu tun, deren Gesichter und Körper mit Bisswunden übersät sind. Die Rede ist hier nicht von Mogli oder anderen Dschungelkindern, sondern von Jungen und Mädchen, die mitten in der Großstadt aufwachsen. Wenn die Eltern ihre Kinder zum Arzt oder in die Klinik bringen, behaupten sie meistens, dass die Bissverletzungen von Hunden oder anderen bissigen Tieren stammten.
Oftmals werden wir dann von der Klinik mit der rechtsmedizinischen Untersuchung beauftragt. Durch unser Gutachten sollen wir klären, ob das Kind tatsächlich von Hund oder Katze gebissen wurde – oder ob die Bissmarken von menschlichen Angreifern stammen.
Auch wenn es wiederum schier unglaublich klingen mag: Unsere Untersuchung fördert in solchen Fällen fast immer zutage, dass die Kinder von ihren eigenen Müttern oder Vätern bzw. deren Lebensgefährten/Lebensgefährtinnen gebissen wurden.
Die Geschichte des kleinen Amon Mansouri, der mit abgerissener Kopfschwarte
(Scalping)
in die Klinik gebracht wurde, haben wir in Kapitel 2 schon erzählt. Ein düsteres Detail haben wir dort aber ausgespart: Der 14 Monate
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