Deutschland misshandelt seine Kinder (German Edition)
vorstellen, dass Väter und Mütter ihren Kindern »so etwas antun können«. Lieber glauben sie die absurdesten Geschichten, die ihnen die Eltern auftischen, als das oftmals Offensichtliche zur Kenntnis zu nehmen.
Zumindest Wissenslücken lassen sich durch entsprechende Schulung schließen. Bei Fortbildungsveranstaltungen zeigen wir den Teilnehmern Fotos von Hautunterblutungen, wie sie typischerweise durch elterliche Beißattacken entstehen. Dann fordern wir die Anwesenden auf, sich so kräftig in den entblößten Unterarm zu beißen, dass es stark wehtut. Alle beißen mehr oder weniger herzhaft zu – und kein einziger Teilnehmer weist anschließend Hämatome wie auf den Fotos der misshandelten Kinder auf. Zumindest diese Helfer werden auf die Mär vom »liebvollen Zubeißen« nicht mehr hereinfallen.
Doch wer unangenehme Wahrheiten nicht zur Kenntnis nehmen will, dem ist auch durch Fortbildung nur schwer zu helfen. Das gilt insbesondere dann, wenn Eltern ihren Kindern im Genitalbereich Bissverletzungen zufügen. Eine Mutter oder ein Vater, die ihren kleinen Sohn in den Penis beißen? Natürlich würden wir alle viel lieber glauben, dass es »so etwas« nicht gibt. Unglücklicherweise kommt es aber immer wieder vor. Wer die Augen davor verschließt, beschützt zwar seine eigene Nacht- und Seelenruhe – doch um den Preis, dass wehrlose Kinder der Gewalt geisteskranker Peiniger ausgeliefert bleiben.
Blutrausch in der Kita
Nicht alle Bisswunden, die sich Kinder zuziehen, stammen unmittelbar von Erwachsenen – aber mittelbar trifft trotzdem meist eine erwachsene Bezugsperson die Schuld. Das zeigt auch das folgende Fallbeispiel.
Der zweijährige Lokman wird von seiner Mutter Gülay Özdemir in die Klinik gebracht. Der türkischstämmige Junge hat Bisswunden im Gesicht, an Armen und Beinen. Insgesamt 32 Bissverletzungen zählt die Ärztin, die den Kleinen erstversorgt.
Nach Angaben der Erzieherin im Kindergarten hat ein gleichaltriges Kind den Jungen attackiert. Die Bisswunden gehen tief ins Fleisch. Lokman bekommt Antibiotika, um eine Infektion zu verhindern. Die Bakterien im menschlichen Speichel sind hochinfektiös, weshalb Bisse von Menschen deutlich gefährlicher sind als Hundebisse. Sie entzünden sich fast immer, Hundebisse dagegen nur zu knapp 50 Prozent.
Die Klinik verständigt das zuständige LKA 125 . Wir erhalten den Auftrag, den verletzten Jungen zu untersuchen.
Die Erzieherin, die zum fraglichen Zeitpunkt in der Kita-Gruppe Aufsicht führte, heißt Ria Helmbeck. Sie ist Ende zwanzig und arbeitet seit fünf Jahren in der Kindertagesstätte. Frau Helmbeck hat angegeben, dass sie die Kinder im Gruppenraum nur etwa drei Minuten sich selbst überlassen habe. Als sie von der Toilette zurückgekehrt sei, habe sie Devin Schreiner, einen anderen zweijährigen Jungen aus der Gruppe, »mit blutigem Mund« vorgefunden. Lokman habe weinend in einer Ecke gekauert. Sie habe sofort seine Mutter angerufen. Eine Erklärung für diesen Vorfall habe sie nicht.
Mit unserem Gutachten sollen wir unter anderem klären, ob es überhaupt möglich ist, dass ein zweijähriges Kind einen Gleichaltrigen innerhalb von drei Minuten 32 -mal kräftig beißt.
Wir messen die Bissmarken im Gesicht, an Armen und Beinen des kleinen Opfers aus. Tatsächlich passen sie nach Größe und Struktur zu dem Gebiss eines zweijährigen Kleinkindes. Damit steht die Erzieherin nicht mehr unter Verdacht, ihren kleinen Schützling selbst misshandelt zu haben. Klar ist jedoch, dass sie ihre Aufsichtspflicht verletzt hat. Fragt sich nur, in welchem Ausmaß.
Alles spricht dafür, dass Devin Schreiner, wie von der Erzieherin angegeben, seinen Spielgefährten attackiert hat. In unserem Gutachten halten wir jedoch fest, dass er Lokman die zahlreichen und tiefen Bissverletzungen keinesfalls in so kurzer Zeit zugefügt haben kann. 32 Bissverletzungen in drei Minuten – das wären fast zehn Beißattacken pro Minute. Ein Mastiff könnte das schaffen, aber Devin Schreiner ist schließlich kein Kampfhund.
Die Ermittler vom LKA 125 konfrontieren Ria Helmbeck mit unserem Gutachten. Die Erzieherin bricht in Tränen aus und gesteht, dass sie mindestens eine halbe Stunde bei ihrem neuen Freund im Auto gesessen habe. »Er hatte um die Ecke geparkt, sonst hätte ich Lokman weinen gehört und wäre sofort zurückgerannt!«, beteuert sie. »Ich wollte sowieso schon viel früher gehen, aber dann hat Dustin mich geküsst und ich habe alles andere
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