Deutschland misshandelt seine Kinder (German Edition)
gesetzlichen
Leichenschaupflicht
bei toten Kindern könnte chronischen Gewalttätern zumindest nach der ersten tödlichen Misshandlung das Handwerk gelegt werden. Hingegen wäre die mancherorts geforderte
generelle Obduktionspflicht
in allen kindlichen Todesfällen vielleicht des Guten zu viel.
2006 schreckte der albtraumhafte Fall des zweijährigen Kevin aus Bremen die Öffentlichkeit weit über die Grenzen des Stadtstaates hinaus auf. Der drogensüchtige Ziehvater hatte den Jungen totgeprügelt und den Leichnam in einem Kühlschrank versteckt. Versagt hatte einmal mehr das Jugendamt, dem das Martyrium des zeitlebens misshandelten Jungen seit langem bekannt war. Unter diesem Eindruck beschloss der Bremer Senat 2009 eine generelle Obduktionspflicht für tote Kinder unter sechs Jahren. Doch solcher Aktionismus trägt zur Verbesserung des Kinderschutzes wenig bei.
Offiziell werden deutschlandweit 160 Kinder pro Jahr zu Opfern von Tötungsdelikten. Kriminalexperten gehen aber davon aus, dass 50 bis 60 Prozent der Fälle primär unentdeckt bleiben. Demnach hat man es einschließlich der Dunkelziffer mit rund 350 Todesopfern pro Jahr zu tun. Diese Zahl, so skandalös hoch sie auch ist, rechtfertigt nicht den immensen Aufwand, den das Bremer Gesetz vorsieht.
Bei genereller Obduktionspflicht müssten auch alle Kinder, die durch Krebs oder andere Krankheiten verstorben sind, von Rechtsmedizinern obduziert werden – und das, obwohl in diesen Fällen von vornherein so gut wie sicher wäre, dass sie nicht aufgrund von Misshandlungen verstorben sind.
Das Bremer Gesetz trat 2011 zwar offiziell in Kraft, wurde aber de facto nie umgesetzt. In der Hansestadt werden heute nicht mehr und nicht weniger tote Kinder obduziert als fünf oder zehn Jahre vorher. Das ist eine wohl auch weise Entscheidung, nicht nur wegen der immensen Kosten, die besser zum Schutz lebender Kinder verwendet werden sollten.
Wenn Eltern durch eine Krankheit oder einen Unfall ihr Kind verlieren, bedeutet das für sie ohnehin einen kaum zu verkraftenden Schlag. Den zusätzlichen seelischen Stress durch eine Obduktion des toten Kindes sollte man ihnen nur dann zumuten, wenn es gute Gründe dafür gibt. Ob Anhaltspunkte für ein Tötungsdelikt bestehen, können erfahrene Rechtsmediziner bereits bei der Leichenschau abklären. Erst wenn sich hierdurch ein konkreter Verdacht ergibt, sollte verpflichtend obduziert werden.
Entlastung schuldloser Eltern
Schon heute ordnen die Staatsanwälte fast immer eine Obduktion des kindlichen Leichnams an, wenn als Todesart »ungeklärt« oder »nicht natürlich« auf dem Leichenschauschein vermerkt ist. Auch Eltern, die sich immer vorbildlich um ihr Kind gekümmert haben, reagieren dann oftmals ablehnend. »Muss das denn sein, dass Sie mein Kind jetzt auch noch aufschneiden?«, bekommen wir beispielsweise zu hören.
Ganz wichtig ist es dann, dass wir den Eltern sensibel begegnen. Behutsam erklären wir ihnen, was im Obduktionssaal mit ihrem Kind geschieht. Manchmal schlagen wir vor, dass sie dem Kind sein Lieblingskuscheltier mitgeben könnten, damit es dort nicht so allein ist. Der Gedanke tröstet viele Eltern tatsächlich.
Einige Tage oder Wochen nach der Obduktion rufen manche Eltern wieder bei uns an und bitten um ein Gespräch. »Hätte ich noch irgendetwas machen können, um mein Kind zu retten?« Diese Frage quält die betroffenen Mütter und Väter oftmals sehr.
Nach Rücksprache mit der und Genehmigung durch die Staatsanwaltschaft dürfen wir ihnen Auskunft geben. »Sie hatten keine Chance, die lebensgefährliche Erkrankung Ihres Kindes rechtzeitig zu erkennen«, erklären wir dann beispielsweise. »Bei Kindern haben harmlose Krankheiten vielfach eine drastische Symptomatik, leider sind die gefährlichen Krankheiten aber äußerlich oft unauffällig.«
Oftmals sind es scheinbar banale Details, mit denen sich die Hinterbliebenen quälen. »Sonst stehe ich immer um sechs Uhr auf«, heißt es dann etwa. »Ausgerechnet an jenem Tag habe ich bis um acht Uhr geschlafen. Hätte ich meinem Kind helfen können, wenn ich zwei Stunden vorher nach ihm gesehen hätte?«
Wenn die Eltern dann erfahren, dass der Tod schon um drei Uhr nachts eingetreten ist, fühlen sie bei allem Schmerz auch unendliche Erleichterung. Nun brauchen sie sich selbst oder ihrem Partner zumindest keine Vorwürfe mehr zu machen. Und oftmals kann die Trauerarbeit erst beginnen, wenn solche quälenden Fragen beantwortet sind.
Mitunter
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