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Deutschland misshandelt seine Kinder (German Edition)

Deutschland misshandelt seine Kinder (German Edition)

Titel: Deutschland misshandelt seine Kinder (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tsokos , Saskia Guddat
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alte Junge hatte nicht nur schwerwiegende Kopfverletzungen, sondern auch halbmondförmige Hautunterblutungen am linken Oberschenkel. Bei unserer Untersuchung stellten wir fest, dass es sich eindeutig um Bissmarken handelte.
    Die Mutter behauptete zunächst, bestimmt sei Amon von seinem dreijährigen Bruder gebissen worden. Doch dafür waren die Bissmarken viel zu groß. Daraufhin präsentierte die Mutter eine neue Erklärung: Der Familienhund, ein Rottweiler, müsse den Säugling abgeleckt und dabei »versehentlich zweimal zugebissen« haben. Gesehen habe das niemand, aber eine andere Erklärung gebe es nicht.
    Tierische Bissverletzungen lassen sich klar von menschlichen Bissmarken abgrenzen. Hunde haben lange Reißzähne, mit denen Menschen höchstens in Werwolf-Filmen ausgestattet sind. Die Bissmarken auf Amons linkem Oberschenkel stammten eindeutig nicht von einem Hund, sondern von einem erwachsenen Menschen.
    Bisswunden sind bizarre und doch charakteristische Beispiele für Verletzungen, die sich Kinder zuziehen können, wenn die Betreuer ihre Aufsichtspflicht nicht erfüllen. Wie unsere Fallschilderungen in diesem Kapitel zeigen, sind die Grenzen von der gelegentlichen Aufsichtspflichtverletzung über die Vernachlässigung bis hin zur aktiven Misshandlung fließend.

Betreute Verwahrlosung
    Als Jason in ein Großklinikum im Berliner Südosten gebracht wird, ist er mit Bisswunden und Blutergüssen übersät. Dr. Lucia Paretti, die diensthabende Ärztin in der Notaufnahme, zählt ein halbes Dutzend Verletzungen im Gesicht, an Bauch und Oberschenkeln des 15  Monate alten Jungen.
    Die Mutter des Kleinen heißt Cheyenne Mulanski und macht auf die Ärztin einen überforderten Eindruck. Cheyenne ist 19  Jahre alt und stark übergewichtig. Sie wirkt ungepflegt, auch wenn ihre Haare in allen Regenbogenfarben gefärbt sind und die zahlreichen Piercings in Nase und Lippen im Neonlicht der Notaufnahme glitzern.
    Wegen der Verletzungen ihres Sohnes scheint sie wenig besorgt. »Jason ist einfach ein bisschen wild«, bekundet sie und streicht dem Jungen über den Kopf. »Er fällt öfter mal hin und haut sich eine Beule.«
    Wie zur Bestätigung lächelt Jason die Ärztin an.
    Dr. Paretti findet das Verhalten der jungen Mutter genauso irritierend wie die grundlose Fröhlichkeit ihres kleinen Sohnes. Jasons Wangen, Bauch und Beine sind mit Hämatomen bedeckt. Durch bloßes Hinfallen kann sich ein Kleinkind eigentlich nicht so zurichten, sagt sich die Ärztin.
    Als sie über eine Bissmarke tastet, zuckt der Junge zusammen. Gleich darauf lächelt er sie noch strahlender an.
    »Und die Bissverletzungen?«, fragt sie. »Wo hat Jason die denn her?«
    Auch dafür hat Cheyenne Mulanski eine Erklärung. Sie lebt mit Jason und ihrem zwanzigjährigen Freund Pascal in einer Einrichtung für betreutes Wohnen. Dort spielt Jason häufig mit der zwanzig Monate alten Summer. »Summer ist stärker und noch wilder als Jason«, erklärt Cheyenne Mulanski. »Sie beißt ihn öfter mal und haut ihm Spielsachen auf den Kopf. Jessica, das ist Summers Mama, und ich können ja nicht dauernd auf die beiden aufpassen.«
    Cheyenne Mulanski rollt mit den Augen. Ihr Handy klingelt, ihre Piercings klirren. »Sie sehen es ja selbst, Jason macht das nichts aus«, fügt sie hinzu. »Er ist immer gut gelaunt und lacht jeden an.«
    Als die Ärztin das Lächeln des Kleinen erwidert, hebt er seine Ärmchen hoch: Offenbar will er, dass sie ihn aufnimmt. Unter seinen Achseln bemerkt Dr. Paretti einige Pusteln, die anscheinend noch nicht ganz abgeheilt sind.
    »Jason hatte Krätze«, stellt sie fest. »Wie lange ist das her?«
    Cheyenne überlegt. »Meinen Sie das letzte Mal?«, erkundigt sie sich. »Oder als er das zum ersten Mal hatte?«
    »Beides«, sagt Dr. Paretti.
    Jason nimmt ihre Hand mit seinen beiden kleinen Händen und schenkt ihr ein strahlendes Lächeln. Dr. Paretti wird dieser Fall entschieden unheimlich. Sie beschließt, uns um Unterstützung zu bitten.
     
    Am nächsten Tag fahren wir zur Klinik, um Jason zu untersuchen. Der Junge ist stationär in die Kleinkindabteilung aufgenommen worden. Die Kinderkrankenschwestern sind von seinem ständigen Lächeln und seiner fröhlichen Zugewandtheit gerührt. Doch keine der erfahrenen Fachkräfte lässt sich täuschen: Diese Distanzlosigkeit Fremden gegenüber ist ein klarer Hinweis auf chronische Misshandlung.
    Mit unserem Gutachten sollen wir Alter und Ursache der Bissmarken und der übrigen Hämatome

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