Deutschland umsonst
meinen abgerissenen Klamotten noch stärker werden läßt als sonst.
Der wievielte Sonntag mag das nun sein, seit ich Hamburg verließ? Der siebte, der achte oder gar der neunte? Je weiter ich zurückrechne, desto mehr verschwimmen die Wochen. Dem Gefühl nach bin ich schon Jahre unterwegs, hinter mir liegt eine Ewigkeit. Habe ich je etwas anderes gemacht in meinem Leben als laufen, laufen, laufen, ist der Rucksack nicht längst ein Teil meines Körpers geworden, sind die speckig gegriffenen Riemen nicht längst auf den Schultern festgewachsen? Die Suche nach etwas Eßbarem, der prüfende Blick in die Obstgärten, die Bäckereien, die Abfallcontainer hinter den Wochenendmärkten, das gespielt schüchterne Fragen nach einem Platz im Heu, in der leeren Garage oder meinetwegen auch im Bett, dies alles ist mir längst zur blinden Gewohnheit geworden, zum Vagabundenalltag, wie Regen, nasse Füße und talgiger Zahnbelag. Mein Weg ist inzwischen mit Routine gepflastert, weg ist das Kribbeln der täglichen Ungewißheit, die gespannte Erwartung des Abenteuers, das hinter jeder Kreuzung lauern könnte, weg ist auch das Glücksgefühl beim Anblick eines Tellers mit Dickmilch und die Verzweiflung, wenn ich irgendwo zurückgewiesen werde. Meine monatelange Wegerfahrung hat mich abgebrüht und ausgekocht; nichts kann mich mehr so recht erschüttern, weder die Haushälterin des Pfarrers in Weilmünster, die, statt mir etwas zu essen zu bringen, die Polizei alarmiert, noch die gute Oma Keller aus Obernhain im Taunus, von der ich ungefragt » Griesklößsche mit Ädbeern « nach einer deftigen » Gemüsesupp « bekomme — es ist, als sei meine Empfindungsfähigkeit betäubt, gute und schlechte Erfahrungen nehme ich fast gleichgültig hin, das Besondere gibt es nicht mehr, nichts kann mich mehr so recht aus dem Tritt bringen, stumpfsinnig trotte ich voran.
Was habe ich mich noch vor zwei Wochen über die Parfumschwaden der Königsallee in Düsseldorf ereifert, und wie vergleichsweise gelassen ertrage ich nun die duftigen Rosenhecken der Heinrich-von-Kleist-Straße in Bad Homburg. Es ist eine stinkreiche Gegend, wo sich die herrschaftlichen Villen hinter haushohem Gebüsch verstecken, als hätten sie ein schlechtes Gewissen. Wer hier etwas haben will, muß sich erst einmal tief hinabbeugen, denn anders erreicht man die in Kniehöhe angebrachten Klingelknöpfe an den Eingangstoren nicht. Namen stehen nirgends, dafür geheimnisvolle Initialen. D. SCH. steht bei meinem ersten Kunden. »Hallo, wer ist da«, kommandiert es aus dem Sprechautomaten. »Hallo, ich bin auf der Wanderschaft und wollte fragen, ob ich Ihnen vielleicht für ein Stück Brot zur Hand gehen kann .« »Es ist genug Personal im Haus«, antwortet die weibliche Stimme und legt auf.
Beim Nachbarn, einem gewissen Dr. V, liegt die Klingel etwas höher, aber direkt daneben starrt mich ein Fernsehauge an. Automatisch fahre ich mir durchs wilde Haar. Kurz nachdem ich gedrückt habe, leuchtet ein kleines rotes Lämpchen auf. Achtung Aufnahme. Ich mache mein freundlichstes Gesicht und lege los: »Guten Tag, ich bin auf der Wanderschaft und...«, das Licht verlöscht, Ende der Sendung. Auch von N. B., C. Z. und A. B. ist nichts zu holen. Unbeeindruckt wechsle ich die Straße und versuche im Philosophenweg mein Glück. Dort hat Dr. Baumstark keine Hemmungen, seinen Namen in großen Lettern an seine Privatklinik zu schreiben. Aber die Küchenchefin fertigt mich eiskalt vor dem Hintereingang ab: »Wenn Sie was zu essen haben wollen, dann gehen Sie doch in den Laden und holen sich was .« Danke für den Tip.
Unten in der Innenstadt gibt es genug Läden. Wo hole ich mir nun was? Beim Metzger ist zuwenig Kundschaft und zuviel Bedienung, da würde ich sofort auffallen. Im Supermarkt ist zwar viel Betrieb, aber dort habe ich Angst vor den Hausdetektiven und Videospionen. Bleibt nur Kaiser’s Kaffeegeschäft, auf Schokolade hab ich ohnedies am meisten Appetit, fast mehr noch als auf gebratene Lammkeule mit Rosmarin, Thymian und viel Knoblauch, mein Lieblingsessen.
Die Süßigkeitenabteilung lächelt mich an. Ein Paket Filterpapier und drei Dosen Kaffeesahne liegen schon in meinem Einkaufskorb, zur Tarnung. Wer Filterpapier und Kaffeesahne kaufen will, der hat auch ein Zuhause, denke ich, da fallen die dreckigen Hosen nicht so sehr auf. Zum Glück ist genügend Betrieb im Laden, die beiden Verkäuferinnen beachten mich nicht. Ich kann also ungestört, wenn auch mit erhöhtem Puls, das
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