Deutschland umsonst
Greis läßt alles apathisch über sich ergehen. Ob Mitleid oder Menschenverachtung — für ihn macht das kaum noch einen Unterschied. Mitten in der Nacht, das Licht ist längst aus, selbst Johannes ist zur Ruhe gekommen, da verliert der alte Hein im Delirium völlig die Kontrolle über seinen Körper, alle Schleusen scheinen sich geöffnet zu haben, es riecht barbarisch nach Kot und Erbrochenem. Ich halte mir meinen Pullover vors Gesicht, krieche ganz tief in meinen Schlafsack und verbeiße mich fest in einen einzigen Satz: >Nichts wie nach Hause !< «
Irgendwann am nächsten Vormittag ging ich in einen Wald und wußte Bescheid: Da hinten, gleich nach der Biegung, mußten Häuser kommen, kleine, häßliche Wochenendhäuser, die ich schon mal gesehen hatte, am zweiten Tag meiner Wanderung vor hundertvierundsiebzig Tagen. Und tatsächlich, gleich nach der Biegung standen sie auch, die häßlichen Dinger, obwohl ich Mühe hatte, sie wiederzuerkennen. Die Autos vor den Holzhütten waren verschwunden, niemand frühstückte auf Hollywoodschaukeln vor Klapptischen, keine Rama , kein Nescafe , keine frischen Brötchen, auch keine Verkehrsinformationen des Norddeutschen Rundfunks. Unter einer dicken Herbstlaubdecke schlief die Kolonie in melancholischer Ruhe, und wäre es Abend gewesen und etwas weiter von Hamburg, ich hätte mir gern eines dieser Häuschen zum Nächtigen ausgesucht.
Hinter Klecken , dort, wo Feldmann Kühe kennengelernt hatte, waren die Weiden längst leer. Damals machte mein Begleiter seine ersten Gehversuche in der Freiheit, inzwischen weiß er, wie man auf drei Beinen pinkelt, wie man Hündinnen besteigt und Kaninchen jagt, er hat zu leben gelernt, und Deutschland ist, Baum für Baum, sein Revier geworden.
Auf Anhieb fand ich die Fußgängerbrücke über die unverändert tobende Autobahn und strebte zielsicher auf den kleinen Obstgarten am Rande der Neubausiedlung zu, wo ich meine erste Frühlingsnacht im Freien verbracht hatte. Die Blüten waren längst verblüht, die Äpfel längst abgeerntet, die letzten braunen Blätter hielten sich gerade noch an den Zweigen der kleinwüchsigen Bäume, der Boden war naß, ich konnte nicht einmal mehr rasten.
Mir war auch nicht nach Ausruhen, Hamburg war längst viel zu nahe, es zog mich an wie ein Magnet, und ich kannte ja den Weg. Wo man einmal zu Fuß entlanggegangen ist, da kennt man sich aus. Fleestedt , Sinstorf , Wilstorf . Vor dem S-Bahnhof Hamburg-Harburg war ich am Ende, die letzten Kräfte verließen mich, ich wollte genau dorthin zurück, wo ich hergekommen war, und nun schleppte ich mich in die S-Bahn, stieg im Hauptbahnhof um, nahm schwarz die blaue Linie U 1, Steinstraße, Meßberg, Jungfernstieg, Gänsemarkt, Hallerstraße, Klosterstern! Ein Passant gab mir die erbetenen 20 Pfennig, ich wählte unsere Telefonnummer, es klingelte zweimal, dann meldete sich Freda. Ein paar Minuten später öffnete sie die Tür zur Telefonzelle, in der ich zusammengekauert und frierend auf meinem Rucksack saß, den warmen Hundekörper im Arm. Wir sahen uns an, und Freda murmelte etwas von Fieber, heißem Kamillentee und Bett.
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