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Deutschland umsonst

Deutschland umsonst

Titel: Deutschland umsonst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Holzach
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Nienburg eine Torfbahn einholte, sprang ich auf und vergaß ein weiteres meiner Wandergebote: Du sollst dich nie mitnehmen lassen! Mir war jetzt alles egal, und es störte mich auch nicht, wenn wir trotz des Zuckeltempos während der viertelstündigen Reise mindestens fünfmal entgleisten. Ich half dem türkischen Zugführer und seinen Begleitern, Strafgefangenen aus Hannover, den Zug wieder flottzumachen, was mir immerhin ein warmes Mittagessen einbrachte.
    Die letzten Tage und Kilometer — es waren trotz gelegentlicher Marscherleichterungen die entbehrungsreichsten, beschwerlichsten und damit auch die schönsten. Der Kontrast zwischen Erwartung und Erlebtem konnte gar nicht groß genug sein.
    Meine Tagebucheintragung aus der Nacht vor Hamburg liest sich wie eine Reportage: »173. Tag: Tostedt, Bremer Straße, Übernachtungsasyl: volles Haus. Rauchende Männer sitzen auf den Bettkanten und genießen die Wärme. Schneeregen pladdert gegen das Kellerfenster. Feldmann liegt naß unter meinem Bett und schläft mit zittrigen Pfoten. An meiner Matratze klebt altes Blut. Die Tür geht auf, eine vermummte Gestalt kommt herein und salutiert militärisch, meldet mit scharfer Stimme etwas in unverständlichem Fremdenlegionärsfranzösisch und sagt dann: >Ein Tippelbruder und Wanderbursche unterwegs. Rauben, morden und brennen kann ich nicht, darum stehe ich vor Ihnen und bitte um einen kleinen Obolus .< Anschließend läßt er sich zu Boden fallen und macht ein paar Liegestütze, einarmig. >Das müßt ihr können im Leben, sonst geht ihr unter<, sagt er, >daß ich was kann im Leben, das hab ich schon bewiesen. Ich bin Klempner, Installateur und Turbinenbauer. Was ist der kürzeste Weg von Punkt zu Punkt ?< fragt er uns wie ein Unteroffizier seine Rekruten, und als niemand antwortet, sagt er: >Die Diagonale, ihr Idioten, so was müßt ihr wissen im Leben, sonst geht ihr unter. Welcher Staat liegt auf dem 48. Breitengrad? Die Krim! Und was heißt Bett auf Französisch? Couché ! Und Küche? Mangé ! Ich spreche fünf Sprachen, unter anderem Arabisch. Die Tuaregs sind das ehrlichste Volk der Erde, bei denen ist noch ja ja und nein nein , auf die ist Verlaß, ihr Idioten, das sind die einzigen Menschen, denen man noch glauben kann .<
    Mir ist, als stünde da Fred Eisfeld vor mir, der Zimmermann aus Hamburg-St . Georg. Aber der Mann heißt Johannes und kommt aus Pommern. >Ich prahl ja nicht mitm Geld, aber aus Tostedt hole ich für zehn Tage Saufen raus, dann allerdings muß ich für ne Weile verschwinden<, tönt er, >hier fällst du übers Geld, du mußt nur wissen, wie mans andreht. Morgen mach ich hier den Wirbelwind, daß die Bungalows wackeln: Gott zum Gruß, ein Wanderbursche und Tippelbruder unterwegs. Ich war nix, ich bin nix und ich werd auch nix mehr werden, darum stehe ich vor Ihnen...< Johannes steht stramm, die Hände an der Hosennaht, >das kommt immer an bei den Deutschem. Aus einer schweren, schwarzen Ledertasche, >ein Erbstück der Bundesbahn<, holt er Gemüse, Kartoffeln, Fleischknochen, ein paar Flaschen Bier und einen Topf mit Spirituskocher. Während er auf dem Fußboden mitten im Zimmer eine Suppe kocht, erbricht sich Hein, mein Bettnachbar, über Mantel und Hose. Hilflos bleibt der Alte auf seinem Stuhl sitzen und schüttelt nur beschämt mit dem Kopf. Ein säuerlicher, beißender Geruch macht sich breit. >Wenn man dich Penner sieht<, brüllt Johannes, >möchte man den Abdecker holen, solche Leute wie du gehören in die Verbrennungsanlage. Zieh dich aus, du Sau, wir sind hier nicht im Schweinestall, wir sind anständige Bürger<. Ich öffne die Fensterluke, um wieder Luft zu kriegen. Schwerfällig müht sich Hein aus seiner Kleidung. Unter dem Wollmantel trägt er zwei Jacketts, ein Hemd und zwei Unterhemden. Seine lange Unterhose ist bis an die Knie völlig verdreckt. An einer Krücke humpelt er in den Waschraum. Sein linkes Bein ist von tiefen Narben übersät.
    Die Suppe ist gar. Jeder bekommt seinen Teil, auch der alte Hein, der jetzt splitternackt und noch halb naß von der Dusche auf der Erde hockt. Johannes legt ihm seinen Mantel über die Schultern. >Paß auf, Mensch, sonst holst du dir noch den Tod<, sagt er plötzlich ganz mitleidsvoll. Eben noch wollte er den Abdecker holen, jetzt füttert er das zitternde Häufchen Elend. Aber Hein kann die Suppe nicht lange bei sich behalten, und kaum ist sein Teller leer, da erbricht er sich erneut, und nun schaltet Johannes wieder auf blindwütiges Fluchen. Der

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