Dezemberglut
HÄTTE ist mir seitdem nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Es war ein Gefängnis mit Mauern aus Leid und tiefster Schuld, die mich nie wieder freigeben würden. Denn hätte ich in jener Nacht eine einzige andere Entscheidung getro f fen, wären meine Eltern noch am Leben. Sie hätten ihr Leben einfach weiterg e führt. Und ich meines. So lief ich allein durch den S-Bahnhof, weit nach Mitte r nacht. Zur falschen Zeit am falschen Ort. Winzige Einzelheiten, schwach und unbedeutend wie Schneeflocken. Aber sie hatten sich verbunden und eine Lawine in Gang gesetzt, die meine Eltern mit sich gerissen und unter sich begraben hatte. Diese Schuld würde mich nie mehr loslassen, und ich fragte mich, wie ich damit weiterleben sollte.
Vielleicht sollte ich doch auf Julians Angebot eingehen, anstatt gegen Windmü h len zu kämpfen. Davon, dass ich meine Erinnerungen behielt, würden meine E l tern nicht mehr lebendig werden.
Es tun. Einfach meine Zustimmung geben. Jeden Morgen ohne Erinnerung an Vampire aufwachen. G lauben, dass es eine Welt ohne sie gab. Meine Angst verli e ren u nd die Erinnerung an meine Schuld. Sarah hatte mir versichert, dass es fun k tionierte und Julian, dass es mir nicht wehtun würde.
Nein, unmöglich. Das verdiente ich nicht. Denn um vergessen zu dürfen, mus s te ich mir erst selbst vergeben, und das konnte ich nicht. Kein Vergeben. Kein Vergessen.
Ich stand auf, tastete nach einer Strickjacke, zog sie an und ging zum Fenster. Die üblichen lauten Geräusche von Berlin fehlten mir. Es war still auf Schwane n werder, viel zu still, und diese Stille erdrückte mich.
Ich zog und zerrte an dem altmodischen Griff, bis sich das Fenster endlich öf f nete. Die Luft war feucht und kalt, es roch nach Gras und Nebel. Ich lehnte mich hinaus und starrte in die regnerische Dunkelheit. Das Anwesen war groß, die Str a ße weit weg. Hinter der Villa lag ein parkähnliches Gelände, das sich bis zum Wannsee erstreckte. Jedes Geräusch blieb darin verborgen. Der Himmel, die Bäume, alles schien zu verschwinden. Als ragte die Dunkelheit bis in mein Zi m mer hinein. Nichts mehr hatte eine Gestalt, eine Grenze. Da war nichts mehr, was mir Halt oder Orientierung gab. Auch ich fühlte mich, als löste ich mich auf. Bis mich die Stille anschrie und zurückholte. Ich erschrak und schlug das Fenster zu.
Mir war eiskalt. Im Schrank hingen Hosen, Pullover und Shirts, in der Komm o de lag Wäsche. Alles war neu und passte. Ich zog einen langen Morgenmantel über meine Strickjacke und schlüpfte in dicke Socken und Pantoffeln. Wenn es mir so ging wie jetzt, half es mir, mein Zimmer zu verlassen, um vor der Angst und meinen Gedanken zu fliehen.
Vampirhaus. Es war viel zu still. Während ich die Treppen hinunterstieg, zog ich den Stoff des Morgenmantels enger um mich. Die Kälte blieb.
Tagsüber wurde ein Teil des Hauses von Menschen genutzt. Autos fuhren vor und wieder weg. Es gab ein kleines Büro und eine Sekretärin. Sie schaute freun d lich und lächelte mich an, wenn sie mich grüßte. Ich grüßte zurück, blieb aber nie stehen, um mit ihr zu sprechen. Männer und Frauen gingen ein und aus, manche in Geschäftskleidung, andere in Overalls. Einer der Männer stellte sich mir als Steffen vor. Er leitete die Tagesschicht der Nacht-Patrouille , dem Wachschutzu n ternehmen, das der Gemeinschaft gehörte. Die Nacht-Patrouille stellte die Siche r heit von Firmen, Wohnhäusern und anderen Objekten sicher, war aber auch im Personenschutz tätig, was ich gleichzeitig absurd und stimmig fand.
Es gab einen beeindruckenden Fuhrpark, Limousinen und SUVs verschiedener Marken und immer einige Männer, die in den Schuppen und Garagen an Autos polierten und schraubten. Alle waren höflich und freundlich zu mir, aber ich ging ihnen aus dem Weg und sprach nicht mehr mit ihnen als notwendig. Sicher wus s ten sie, wer ihre Arbeitgeber waren, und allein das war Grund genug für mich, um jeden Kontakt zu vermeiden.
Während ich mich im Untergeschoss die langen Flure entlangstahl, versuchte ich meine Angst zu verscheuchen, indem ich auf jeden Lichtschalter drückte, der auf meinem Weg lag. Ob sie je wieder aufhören würde? Die Furcht vor der Du n kelheit?
Ich kam an einem Spiegel vorbei, sah in mein Gesicht, ging einen Schritt zurück, musste mich dazu zwingen, mich zu betrachten, mir selbst in die Augen zu sehen. War ich das? Oder eine Gestalt aus einem Traum? Das hier konnte ich nicht sein, weil das unmöglich mein Leben war. Mein Verstand
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