Dezemberglut
Rauschen war verstummt, nur mein Herzschlag dröhnte in meinen Ohren.
„Das ist ein absolut schlechter Zeitpunkt.“ Die Kälte, die vom Blick des Blo n den ausging, ließ mich frösteln.
„Andrej. Sie will nur mit mir reden.“ Die Stimme besaß ruhige Autorität. Sie war alles andere als kalt und gab mir Hoffnung.
„Pierre wird gleich hier sein. Danach hast du den Inneren Kreis einberufen. Und wir müssen die Versammlung vorbereiten.“
„Dann warte hier und sag Pierre, dass er sich noch etwas gedulden muss.“
Das war Julian, da war ich jetzt sicher. Ich wagte nicht aufzustehen, aber ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und hob meinen Blick.
Julian hatte ein schroffes, strenges Gesicht, graue Augen und eine Nase, die man wohl aristokratisch nennen konnte. Alles an ihm strahlte Macht und Selbstb e wusstsein aus. Nun streckte er mir schweigend die Hand entgegen.
Ich zitterte vor Angst. Spürte Panik. Widerwillen. Und fühlte mich auf die Probe gestellt. Nie hatte mir die Berührung eines Vampirs etwas Gutes gebracht. Spiel mit, redete ich mir zu. Ich wollte etwas von ihm. Außerdem hatten mich die Vampire der Gemeinschaft befreit und Gregor getötet, und der Feind eines Fei n des ist schließlich so etwas wie ein Freund.
Ich zauderte und griff zu. Ich spürte ein beunruhigendes Kribbeln, wie die A n deutung einer dunklen Kraft, die sich sofort wieder zurückzog. Dann war da nur noch Julians kühle Hand.
Julian stand regungslos und schaute mich unverwandt an, schließlich zog er mich hoch und ließ meine Hand los. „Komm.“ Er öffnete die Tür, die er eben geschlossen hatte. „Hier können wir reden.“
Langsam ging ich an ihm vorbei, nahm dunkles Holz an den Wänden wahr und einen weichen Teppich unter meinen Füßen, bevor ich auf die Kante des Lede r sessels rutschte, den er mir angeboten hatte.
Mein Mund war trocken und mein Kopf leer.
Julian betrachtete mich. „Nun? Warum willst du mit mir sprechen?“
Ich kämpfte gegen meine Angst, fing endlich meine Gedanken ein und schaffte es, Worte daraus zu formen. „Ich will nicht, dass mein Gedächtnis gelöscht wird“, platzte ich heraus.
Julians Augen zeigte n noch nicht einmal ein Blinzeln. „Mir wurde gesagt, ihr seid beide einverstanden.“
Außer mir gab es noch Kevin, der einen Tag vor unserer Befreiung in mein Zimmer gebracht wurde. Was mit Mirko geschah, war ihm erspart geblieben. I n zwischen wusste ich, dass es viele Opfer von Gregor gegeben hatte, eine Flut von Entführungen, die in S- und U-Bahnhöfen ihren Anfang nahmen . A ußer Kevin und mir hatte niemand überlebt .
Alle anderen waren tot oder von Gregor gewandelt worden, und von diesen ha t ten siebzehn Vampire überlebt. Sarah hatte mir erzählt, dass sie bis auf Weiteres sicher verwahrt wurden. Das fand ich beruhigend, da ich mir vorstellen konnte, wie gefährlich sie waren.
„Kevin ist einverstanden“, sagte ich leise. „Ich bin es nicht. Er ist froh, alles vergessen zu dürfen.“ Kevin konnte zu seinen Eltern zurückkehren, zu einer Freundin, einem Leben, das weiterzuführen sich lohnte.
„Aber für dich trifft das nicht zu“, stellte Julian fest.
„Nein.“ Nachdem ich verschwunden war, hatten meine Eltern alles getan, um mich zu finden, und einen furchtbaren Preis dafür bezahlt. „Mein Vater ist … war nicht gesund und auch nicht mehr der Jüngste.“ Nicht mehr der Jüngste? Gott, wie alt war dieser Vampir? Ich holte tief Luft und berichtete Julian, was Sarah mir erzählt hatte. „Mein Vater hatte einen Herzinfarkt, am Steuer, nach einer Press e konferenz der Polizei . Meine Mutter saß neben ihm im Auto. Sie starb noch an der Unfallstelle, mein Vater kurz darauf im Krankenhaus.“ Meine Stimme klang so distanziert wie die einer Nachrichtensprecherin.
Julian nickte langsam. „Das warst also du. Und deine Entführung? Die Gefa n genschaft? Möchtest du das alles nicht lieber vergessen?“
Ich wollte, aber ich durfte nicht. „Nein. Niemals“, antwortete ich. „Nicht die Wahrheit, warum meine Eltern sterben mussten.“
„Gregor ist tot.“
Julian hatte meine Eltern gerächt, sozusagen. Und ebenso die siebzehn gewa n delten Vampire und alle anderen, die Gregor auf dem Gewissen hatte, Opfer wie Mirko und ich selbst. Denn es war Julian, der Gregor gemeinsam mit seiner G e fährtin Ellen besiegt und seinen Tod veranlasst hatte.
„Und Martin sitzt im Kerker und kann keinen Schaden mehr anrichten.“
„Ja.“ Als Julian schwieg, fügte ich hinzu:
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