Dezembersturm
Nikas! Oder willst du unbedingt noch heute in die Grube fahren?«, fuhr der Arzt ihn an.
Der alte Trettin, den seine Freunde nach seinem zweiten Namen Nikolaus Nikas nannten, schüttelte mühsam den Kopf. »Ich darf nicht sterben, nicht jetzt!«
Die Worte klangen zwar verwaschen, doch zu seinem Erstaunen konnte der Arzt sie verstehen. Er begriff durchaus, was seinen Patienten bewegte, wollte aber keine Diskussion mit ihm beginnen, sondern half ihm, sich so hinzulegen, wie es am bequemsten war. »Ich werde dir jetzt eine Spritze geben. Danach wirst du schlafen und, so Gott will, in einem besseren Zustand wieder aufwachen als jetzt«, sagte er, während er die Spritze aus seinem Koffer holte und aufzog.
Trettin streckte die Rechte, die ihm noch gehorchte, nach dem Arzt aus. Da dieser jedoch links neben ihm stand, konnte er ihn zunächst nicht erreichen. Mit einer schier übermenschlichen Anstrengung gelang es ihm dann doch, seine Finger in den Ärmel seines Freundes zu krallen.
»Ich muss mit dir reden, alter Knochenflicker! Danach kannst du mich meinetwegen betäuben. Aber zuerst hörst du mir zu.«
Es klang so drängend, dass Doktor Mütze in seinen Vorbereitungen innehielt. »Also gut, Nikas, ich gebe dir ein paar Minuten. Aber danach bist du ein braver Bursche und lässt dich ohne einen Mucks von mir piksen.«
»Versprochen!« Wolfhard von Trettin nickte und zog dann den Arzt näher zu sich heran. »Das mit meiner Tochter und ihrer Familie war nicht nur ein übler Traum, nicht wahr?«
Der Arzt senkte betroffen den Kopf. »Leider nein! Wir haben heute Morgen alle fünf gefunden. Der Pastor kümmert sich jetzt darum, dass sie ordnungsgemäß eingesargt und begraben werden.«
»Der Pastor, sagst du?« Die gesunde Gesichtshälfte des alten Trettin wurde zu einer Grimasse des Zorns. »Der Kerl ist schulddaran, dass ich hier so liege! Wagte er mir doch ins Gesicht zu sagen, der Tod meiner Tochter wäre die Strafe für meine Sünden und ich solle mich mit Ottokar versöhnen, obwohl dieser die Toten auf dem Gewissen hat.«
»Ich habe das Gerücht gehört, er sei am Lehrerhaus vorbeigefahren, ohne anzuhalten. Der Pastor hat allen verboten, noch einmal davon zu sprechen. Seinen Worten zufolge sei der Gutsherr nach Königsberg gefahren und könne daher gar nicht im Dorf gewesen sein.« Doktor Mütze wollte noch mehr sagen, doch der Kranke unterbrach ihn mit einem zornigen Laut.
»Ottokar ist durch das Dorf gefahren, denn er kam von mir. Wir haben uns gestritten, wie immer, und aus Rache hat er keine Hand gerührt, um meine Tochter zu retten.«
Der Arzt starrte seinen Freund erschrocken an. »Das wäre … das ist ja ungeheuerlich!«
»Ebenso ungeheuerlich wie die Worte des Pastors, der sich zu seinem Handlanger macht! Ich will nicht, dass der Kerl meine Toten begräbt«, stieß der Kranke erregt hervor.
»Daran wirst du ihn nicht hindern können. Bei Gott, du darfst froh sein, wenn du in ein paar Wochen in einem Rollstuhl sitzen und von der Terrasse des Jagdhauses aus den Sonnenuntergang beobachten kannst.« Der Arzt legte dem alten Freiherrn die linke Hand auf die Schulter und nahm mit der rechten die Spritze.
Wolfhard von Trettin schloss das gesunde Auge und stöhnte gequält auf. »Meine Tochter wird er vielleicht noch begraben können, aber mich wird er nicht unter die Erde bringen, das schwöre ich dir. Eher gebe ich die Religion auf.«
»Das kannst du nicht tun! Du musst auch an Lore denken. Was wäre das für ein Leben für sie – ohne Gott?«
»Du hast recht! Ich muss an Lore denken. Gott, gib mir nur die Zeit, das zu tun, was notwendig ist. Du wirst mir dabei helfen müssen, verstehst du? Sie darf nicht unter die Vormundschaft Ottokarsgeraten. Dessen Angetraute würde sie zu ihrer Magd erniedrigen. Aber sie ist meine Enkelin und hat das Anrecht, als solche behandelt zu werden. Versprich mir, dass du mir hilfst!«
»Ich helfe dir«, versprach der Arzt und setzte die Spritze an. Noch während er den Kolben langsam nach vorne drückte, huschte der Anschein eines grimmigen Lächelns über die gesunde Gesichtshälfte seines Patienten.
»Wir werden Ottokar schon ein Schnippchen schlagen, alter Freund! Er soll nicht auch noch für den Tod meiner Tochter und Lores Geschwister belohnt werden. Das schwöre ich!« Dann musterte Trettin den Arzt nachdenklich, und während das betäubende Mittel bereits zu wirken begann, äußerte er eine letzte Bitte.
»Es darf aber niemand etwas von meinen Plänen erfahren,
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