DGB 06 - Gefallene Engel
alle kleine Kinder, und zu Hause warteten zahlreiche hungrige Mäuler. Der
Winter rückt näher, und wenn man überleben will, braucht man was zu essen und
Brennholz. So läuft das nun mal hier draußen. Außerdem waren sie gut bewaffnet
und im Dutzend unterwegs. Man sollte meinen, dass man in einer größeren Gruppe
sicherer ist. Aber in diesen Wäldern hier gibt es keine Sicherheit, wenn es um
die Bestie geht.«
Narel war fast halb so alt wie
Lord Domiel von Endriago, doch schon bald hatte sich herausgestellt, dass der
Waldarbeiter genauso geschwätzig war wie sein Herr und Meister. Während er ihn
durch den Wald führte, plapperte er unentwegt drauflos. Er neigte allerdings dazu,
recht leise zu reden, wobei er ständig ängstliche Blicke auf die Bäume und das
Unterholz ringsum warf. Der Waldarbeiter war sichtlich nervös, als rechne er damit,
dass die Bestie plötzlich hinter einem Baum hervorkam und sich auf ihn stürzte.
»Natürlich kriegen diese Kinder
jetzt erst recht nichts zu essen«, redete Narel weiter und überprüfte bestimmt zum
zwanzigsten Mal, ob sein Gewehr auch tatsächlich geladen und entsichert war.
»Wenn sich nicht jemand um sie
kümmert, werden sie noch verhungern. Nur ich kann's nicht machen. Sicher, die
Kleinen tun mir leid, aber ich und meine Frau, wir müssen unsere eigene Meute
durchfüttern. Das ist die wahre Tragödie an dem Ganzen, wenn du mich fragst.
Jedes Mal, wenn die Bestie tötet, gibt es ein paar Waisenkinder mehr. Da kommen
eine Menge Kinder zusammen, die ohne Mutter oder Vater aufwachsen müssen.«
Zahariel konnte die Nervosität
des Mannes gut verstehen. Nach dessen Schilderungen hatte er die meisten Opfer
der Bestie persönlich gekannt, jedenfalls die, die aus Endriago stammten.
Viele waren sogar Verwandte von
ihm gewesen. Angesichts der weitreichenden Verwandtschaftsverhältnisse, die in
solch kleinen, in sich geschlossenen Gemeinschaften herrschten, war eine solche
Situation gar nicht so ungewöhnlich.
Jeder in Endriago hatte einen
Nachbarn, einen Freund oder einen Angehörigen durch die Bestie verloren. In der
kurzen Zeit, die er in der Burg verbracht hatte, war Zahariel nicht entgangen,
dass die ganze Stadt von Angst erfüllt war. Er hätte wohl lange suchen müssen, um
auf einen Einwohner zu stoßen, der sich nicht vor der Kreatur fürchtete.
Die Leute aus Endriago
verließen ihre Siedlung nur noch, wenn es unbedingt nötig war. Nach einem Blick
auf die tiefen Kratzspuren im Burgtor war er zu der Ansicht gelangt, dass diese
Angst durchaus berechtigt war.
Die Bestie, die für Bruder
Amadis' Tod verantwortlich gewesen war, hatte sie zu Gefangenen in ihrer
eigenen Siedlung werden lassen, und das bestärkte ihn nur umso mehr, diese
scheußliche Kreatur ein für alle Mal unschädlich zu machen.
Die momentane Situation konnte
so nicht andauern. Wie Narel ganz richtig gesagt hatte, rückte der Winter näher.
Bald würden die Einwohner von Endriago ihre Vorräte an Lebensmitteln aufstocken
müssen, wenn sie die bitterkalten Monate überstehen wollten.
Wenn sie nicht in den Wald
gingen, um diese Vorräte zusammenzutragen, stand ihnen ein langsamer Hungertod
bevor.
Aber wenn sie sich in den Wald
wagten, liefen sie Gefahr, von der Bestie getötet zu werden.
Die gestrige Gruppe hatte sich
dafür entschieden, den Schutz der Stadtmauer zu verlassen, und sie hatten allem
Anschein nach mit dem Leben dafür bezahlt.
Wenn die Bestie weiter durch
die Wälder rings um Endriago zog, stand die Existenz der gesamten Siedlung auf
dem Spiel. Wenn niemand ihrem Treiben ein Ende setzte, würde es nur immer neue
Tragödien geben. Mehr Tragödien, mehr Trauer und noch mehr Waisenkinder.
Etliche Menschen waren bereits getötet worden, und keine Gemeinschaft konnte es
sich leisten, so viele Verluste hinzunehmen. Die Verantwortung, die auf
Zahariels Schultern lastete, war immens.
Wenn es ihm nicht gelang, die
Bestie zu töten, stand nicht nur sein Leben auf dem Spiel, sondern das
Überleben aller Familien in Endriago.
»Da wären wir jedenfalls.« Narel
war auf halber Strecke stehen geblieben. Er musterte Zahariel mit
unübersehbarem Unbehagen.
»Du weißt, dass ich dir gesagt habe,
ich kann dich nicht bis zu der Stelle führen. Ich würde es ja machen, aber ich
habe Frau und Kinder. Du verstehst schon, nicht wahr? Ich muss für sie da
sein.«
»Ja, ich verstehe das«,
erwiderte Zahariel.
»Ab hier sollte ich den Weg
allein finden können.«
»Na, dann ist alles klar«,
meinte der
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