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DGB 06 - Gefallene Engel

DGB 06 - Gefallene Engel

Titel: DGB 06 - Gefallene Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mitchel Scanlon
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festungsartigen Kloster von Aldurukh gekommen
waren, um vom Orden als Ritteranwärter angenommen zu werden. Ganz gleich, welche
angenehme Fantasie ihm durch den Kopf ging, jedes Mal kam die Finsternis hervor
und brachte ihn zurück zu jenem ersten Tag im Orden.
    Es war mitten im Winter
gewesen, der einzigen Jahreszeit, in der der Orden Rekruten annahm, und
Hunderte Kinder strömten zur Festung, die alle darauf hofften, zu jener
Handvoll zu gehören, die schließlich ausgewählt wurden.
    Das Auswahlritual war für jeden
Bewerber das Gleiche.
    Die Wächter an den Toren
erklärten den Wartenden, dass es nur eine Möglichkeit gab, für eine Ausbildung im
Orden angenommen zu werden: Sie mussten eine Nacht vor den Toren verbringen,
bis der neue Tag anbrach. Während dieser Zeit mussten sie stehen und durften sich
nicht vom Fleck rühren. Sie durften nichts essen, nicht schlafen, sich nicht
hinsetzen und auch auf keine andere Weise ausruhen. Außerdem mussten sie ihre
Mäntel und Stiefel abgeben.
    An dem Tag, an dem sich
Zahariel dieser Prüfung stellte, hatte es geschneit, und der Wind hatte den
Schnee an den Mauern der Festung hoch aufgetürmt, was dem Ganzen ein sonderbar
festliches Erscheinungsbild verlieh.
    Nemiel stand gleich neben ihm,
da sie beide beschlossen hatten, Ritter zu werden — vorausgesetzt, sie würden
diese Prüfung bestehen und für würdig befunden.
    Als die Prüfung begann, lag der
Schnee bereits hoch, und da es Stunde um Stunde weiter schneite, waren sie
schließlich bis zu den Knien in der weißen Pracht versunken. Obwohl der Wald
etliche Hundert Meter von der Festungsmauer entfernt lag, schien sich die Finsternis
jenseits der Baumreihe wie ein Lebewesen nach ihnen auszustrecken und sie wie
einen unerwünschten Liebhaber in eine seidene Umarmung zu schließen.
    Im Schlaf drehte sich Zahariel
hin und her, die Kälte im Traum ließ ihn auf seinem Feldbett frieren. Er
wusste, dass es ein Traum war, doch diese Erkenntnis genügte nicht, um sich von
dem Unausweichlichen zu lösen und aufzuwachen. Seine Arme und Beine fühlten sich
so kalt an, dass er überzeugt war, seine Finger und Zehen seien erfroren, und
er werde sie verlieren. Er wusste, am Morgen nach der Dunkelheit würde er
aufwachen und sich vergewissern, dass sein Alptraum nicht doch Realität
geworden war.
    Während der Prüfung hatten die
Wachen alles in ihrer Macht Stehende unternommen, um die Tortur noch schlimmer
zu machen. Sie waren zwischen den frierenden Kindern hin und her gegangen und
hatten mal mit gehässigen, mal mit freundlichen Gesten versucht, deren Willen
zu brechen.
    Ein Wachmann hatte Nemiel als
Dummkopf bezeichnet und gefragt, wie er überhaupt glauben könnte, er sei
würdig, in den Orden aufgenommen zu werden. Ein anderer hatte versucht,
Zahariel in Versuchung zu führen, indem er ihm eine Decke und eine warme
Mahlzeit anbot, falls er von seinem Vorhaben Abstand nahm und die Prüfung
abbrach.
    Wieder sah Zahariel das Gesicht
dieses Wachmanns vor sich, wie er vor ihm stand und auf ihn herabblickte. »Komm
mit hinein, Junge. Es gibt keinen Grund, warum du hier draußen in der Kälte
stehen solltest. Du schaffst es ja sowieso nicht in den Orden. Jeder weiß, dass
du gar nicht das Zeug dazu hast, und du selbst weißt es ja auch. Ich kann es
dir doch ansehen. Komm mit hinein. Du willst doch nicht die Nacht hier draußen
verbringen, oder? Raptoren, Bären, Löwen und andere Raubtiere schleichen nachts
um die Festung, und es gibt für sie nichts Schöneres als einen kleinen Jungen,
der völlig schutzlos dasteht. Du wärst für sie ein richtiger Leckerbissen.«
    Bislang war der Alptraum seinem
vertrauten Weg gefolgt und hatte sich an der Erinnerung an jene Nacht orientiert.
Doch an irgendeinem Punkt — und es war jedes Mal ein anderer — wich er
plötzlich von den wahren Geschehnissen ab und glitt in den Wahnsinn ab. Dann
sah er Dinge, die nicht seinem Gedächtnis entstammten, von denen er sich aber
wünschte, er könnte sie so selbstverständlich aus seinem Kopf verbannen, wie
sich ihm die angenehmen Träume nach dem Aufwachen entzogen.
    In dieser Variante stand
Zahariel neben einem blonden Jungen, den er noch nie gesehen hatte, weder in seinen
Alpträumen noch in Wirklichkeit. Der Junge war von wundersamer Vollkommenheit
und stolz. Kerzengerade stand er da, wie jemand, der einmal zum mächtigsten
Krieger aufsteigen würde.
    Ein Wachmann mit knorrigem
Gesicht und grausamen orange-farbenen Augen beugte sich zu dem Jungen vor.

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