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DGB 06 - Gefallene Engel

DGB 06 - Gefallene Engel

Titel: DGB 06 - Gefallene Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mitchel Scanlon
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wie sie beide. Zwar regten sich hier und da Unmutslaute,
dennoch wagte niemand, sich mit einem Jungen anzulegen, der schon länger als er
selbst zum Orden gehörte. Hier herrschte eine wortlose und trotzdem von allen
verstandene Hierarchie, über deren Struktur sich schlichtweg niemand
hinwegsetzen konnte.
    Dann endlich hatten sie den
ihnen zustehenden Platz erreicht — vor den niederen Anwärtern und auf gleicher
Höhe oder ein Stück hinter jenen, die einen ähnlichen Rang vorweisen konnten.
Auch wenn die Mitte des Rundsaals ein gehöriges Stück entfernt war, war das
Panorama von hier oben mit keiner anderen Aussicht in diesem Raum zu
vergleichen.
    Dort in der freien Mitte stand
ein einzelner, an einen Thron erinnernder Sessel; ringsum hielt sich kein
Mensch auf.
    »Sieht so aus, als wären wir
noch rechtzeitig gekommen«, meinte Zahariel, was Nemiel mit einem knappen Nicken
unterstrich.
    Banner hingen von der Saaldecke
herab, bei deren Anblick Zahariel ein vertrautes Kribbeln verspürte. In Bildern
erzählten diese Banner die Geschichte des Ordens. Goldstickereien über-zogen
zeremonielle Standarten in den Farben Grün und Blau, die zahlenmäßig den rot
gesäumten Kriegsbannern deutlich unterlegen waren.
    Insgesamt hatte man so viele
Fahnen an der Decke aufgehängt, dass es schien, als habe man ein großes Laken gespannt
und dann in Quadrate zerschnitten.
    Auf ein unbestimmbares Signal
hin verfielen die Anwesenden nach und nach in Schweigen, und dann hörte Zahariel,
wie knarrend eine Holztür geöffnet wurde. Das Scheppern einer Rüstung ertönte,
begleitet von lauten metallenen Schritten auf Marmor.
    Schließlich entdeckte er den
Mann, der in ihm den Wunsch geweckt hatte, Ritter zu werden. Dieser Mann begab
sich in die Saalmitte, er trug die polierte Plattenpanzerung des Ordens.
    Zahariel versuchte, beim
Anblick dieses Kriegers keine Enttäuschung aufkeimen zu lassen. Er hatte
erwartet, einen hoch aufragenden, legendären Helden zu sehen, der dem Löwen
ebenbürtig war. Aber nun musste er erkennen, dass Bruder Amadis ein Mann von
nur durchschnittlicher Statur war.
    Er wusste, er hätte nicht mit
mehr rechnen dürfen. Dennoch hatte er insgeheim auf etwas anderes gehofft als
auf einen gewöhnlichen Mann aus Fleisch und Blut, war dieser doch ein Leben
lang der Held seiner Träume gewesen.
    Noch während er versuchte,
diese nüchterne Erkenntnis zu verarbeiten, fiel ihm etwas Undefinierbares an dem
Mann auf. Es hatte mit der Art zu tun, wie Amadis auf den Platz in der Mitte
zuging, als gehöre ihm der ganze Saal. Er strahlte ein Selbstbewusstsein aus,
das ihn wie ein Mantel umgab — so als wisse er, dass alle nur seinetwegen
hergekommen waren und dass dies auch sein gutes Recht war.
    Man hätte es als maßlose
Arroganz deuten können, doch Zahariel konnte einen ironischen Ausdruck im
Gesicht des Mannes ausmachen, als habe der zwar einen solchen Andrang erwartet,
empfinde es aber als absurd, dass ihm solche Aufmerksamkeit zuteilwurde.
    Je länger Zahariel die Gestalt
musterte, desto deutlicher wurden die lässige Selbstsicherheit, die
Zielstrebigkeit und der ruhige Mut in jeder Bewegung und jeder Geste. Amadis
hielt das Heft seines Schwerts fest umschlossen, während er sich dem freien
Platz näherte. Er war von Kopf bis Fuß ein echter Krieger, und Zahariel spürte,
wie seine Bewunderung für diesen heldenhaften Ritter mit jedem Augenblick
wuchs.
    Er hatte stets geglaubt, dass
die ihn umgebenden Ritter, in deren Nähe sich aufzuhalten für ihn schon eine unermessliche
Ehre war, keine Furcht kannten. Doch beim Blick in Bruder Amadis'
wettergegerbtes Gesicht wurde ihm klar, wie absurd diese Überlegung war.
    Als Junge, der seine Zeit in
den Wäldern von Caliban verbrachte, hatte er oft genug Furcht empfunden, aber er
war stets davon ausgegangen, dieses Gefühl nicht mehr zu kennen, wenn er erst
einmal Ritter war. Bruder Amadis dagegen hatte sich trotz seiner Furcht
schrecklichen Widersachern gestellt und über sie triumphiert. Angst zu kennen,
richtige Angst, und dennoch einen Sieg zu erringen, erschien ihm eine noch viel
größere Leistung als jeder Triumph, bei dem Angst keine Rolle gespielt hatte.
    Bruder Amadis sah sich um und
nickte zufrieden, da ihm offenbar der Eindruck gefiel, den die Männer und Jungs
um ihn machten.
    »Wenn ihr eine lange,
anfeuernde Rede erwartet, dann werde ich euch wohl enttäuschen müssen, denn
eine solche halte ich nicht.«
    Mühelos wurde seine Stimme bis
in die hintersten Reihen

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