DGB 06 - Gefallene Engel
nicht mehr
zum Ritter ausbilden lassen.
Er war sieben Jahre alt, und er
wollte nach Hause.
So entsetzlich die Geräusche
auch gewesen sein mochten, waren es doch die Stimmen, die diese Tortur umso qualvoller
machten.
Sie waren die abscheulichste
Erfindung seines Alptraums.
Zwischen den anderen Lauten
schlug ihm aus dem Wald ein Gewirr aus flüsternden Stimmen entgegen. Er wusste
nicht, ob jemand außer ihm sie auch hören konnte; immerhin reagierte niemand
auf die Worte, die sich ihren Weg in seinen Schädel bahnten und ihm
Versprechungen von Macht, Fleisch und Unsterblichkeit machten.
Alles würde ihm gehören, wenn
er die Warteschlange vor der Festung verließ und sich in den Wald begab. Da die
Wachen nicht mehr da waren, fand Zahariel, dass er es wagen konnte, den Kopf zu
drehen und sich das Gewirr aus Ranken am Waldrand anzusehen.
Zwar war Caliban fast
vollständig von Waldflächen bedeckt, und Zahariel hatte sein ganzes Leben in
Sichtweite der großen Bäume und des sich im Wind bewegenden Blätterdachs
verbracht, doch dieser Wald hier war ganz anders als das, was er kannte. Die
Baumstämme wirkten leprös und grün, die Borke war verrottet und krank.
Dunkelheit, schwärzer als die finsterste Nacht, herrschte zwischen den Bäumen.
Die Stimmen versprachen ihm zwar, es werde alles gut, wenn er in den Wald
komme, aber er wusste, dass dort ungeahnte Schrecken und unfassbare Alpträume
auf ihn lauerten.
So lächerlich es ihm auch
schien, wusste er doch, dieser aus einem Traum geschaffene Wald war kein
natürliches Phänomen.
Vielmehr war er so fremdartig,
dass er jenseits der Welt der Sterblichen existierte, entstanden aus deren
Träumen und Nacht-mahren, zum Leben erweckt von ihren Wünschen und Ängsten.
Was in den Tiefen dieses Waldes
lauerte, ging weit über Furcht und Vernunft hinaus. Es war Irrsinn und elementare
Kraft, die im Einklang mit den Wogen der Menschen und ihren grässlichen
Existenzen kochte und brodelte.
Und doch ...
So düster und beängstigend der
Wald auch war, ging von ihm doch eine unbestreitbare Anziehungskraft aus.
Macht ließ sich immer
beherrschen, ganz gleich, aus welcher Quelle sie gespeist wurde. Elementare
Energien ließen sich bändigen und nutzbar machen, um demjenigen zu dienen, der
stark genug war, ihre Komplexität zu beherrschen.
Mit einer solchen Macht ließ
sich alles erreichen, es gab keine Grenzen. Die großen Bestien konnten so
ausgerottet werden, andere ritterliche Bruderschaften ließen sich in die Knie
zwingen.
Ganz Caliban würde dem Orden
unterstehen, und jeder würde den Meistern des Ordens gehorchen oder aber durch
die Schwerter der schrecklichen schwarzen Todesengel sterben.
Als er überlegte, welcher Ruhm
auf den Schlachtfeldern errungen werden konnte, musste er lächeln.
Er stellte sich das
nachfolgende Gemetzel vor, dachte an die Aasfresser und Würmer, die sich an den
Toten gütlich tun würden — und an die lachenden Verrückten, die der Ruin einer
Welt fröhlich stimmte.
Zahariel stieß einen Schrei
aus, die Vision wich aus seinem Verstand, und er hörte, was diese Stimmen in Wahrheit
waren: das Wispern in der Dunkelheit, der provokante Tonfall, das er-schreckende
Lachen und die eifersüchtigen Vipern, die Grabplatten zerbrechen ließen und die
Plattitüden seiner Grabinschrift formulierten.
Selbst ohne ihre Maske würden
die Verführer aus dem dunklen Reich des Waldes ihn nicht in Ruhe lassen. Ihre
Schmeicheleien machten ihm immer weiter zu schaffen, bis seine Füße schließlich
bereit waren, ihn in die Verdammnis der Dunkelheit zu tragen.
Am Ende kam es, wie es immer
kam: Es war Nemiel, der ihn davon abhielt. Nicht durch Worte oder Taten, sondern
allein durch die Tatsache, dass er da war.
Nemiel stand die ganze Nacht
hindurch neben ihm und ertrug die kalte, beängstigende Finsternis. Sein Freund blieb
unerschütterlich und unverrückbar an seiner Seite.
Zahariel nahm sich ein Beispiel
an seinem Cousin, schöpfte neue Kraft und kam zu der Erkenntnis, dass er ohne
diese enge Freundschaft nicht durchgehalten hätte. Der Mut, den er dank ihm
schöpfen konnte, half ihm, sich nicht von seinen Ängsten unterkriegen zu lassen.
Schließlich hatte er die Nacht
mit Nemiel an seiner Seite überstanden.
Als die unerbittliche Logik des
Alptraums seiner Erinnerung wich, stieg die Sonne über die Baumwipfel, und das
düstere Flüstern verstummte. Nur noch ein Dutzend Jungs stand vor den Toren von
Aldurukh, und Zahariel konnte sich in seinem Bett
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