DGB 06 - Gefallene Engel
»Du
musst die Prüfung nicht bis zum Ende durchstehen«, erklärte er. »Dein Stolz und
deine Standhaftigkeit haben den Großmeister des Ordens auf dich aufmerksam
werden lassen. Dein Schicksal ist bereits entschieden. Jeder Narr, der Augen
hat, kann sehen, dass du das Zeug zum Auserwählten hast.«
Zahariel hätte den Jungen am
liebsten angeschrien, er solle diese Lügen nicht glauben, doch es waren genau
die Worte gewesen, die der hatte hören wollen. Der Wachmann versprach ihm das,
wonach er sich sehnte.
Der Junge begann bei dieser
Nachricht zu strahlen, dann sank er erschöpft auf die Knie und beugte sich vor,
um den schneebedeckten Boden zu küssen.
Als der Wachmann zu einem
schadenfrohen Gelächter ansetzte, hob der Junge abrupt den Kopf. Zahariel konnte
beobachten, wie sich auf seiner Miene allmählich Begreifen abzeichnete.
»Du dummer Junge! «, rief der
Wachmann. »Du glaubst, du bist was Besonderes, nur weil dir das jemand sagt? Du
bist nur eine Spielfigur, mit der wir unseren Spaß haben.«
Daraufhin stieß der Junge ein
zu Herzen gehendes Heulen aus.
Zahariel musste sich zwingen,
den Blick stur geradeaus gerichtet zu lassen, um nicht mit anzusehen, wie man
den heulenden, vor Entsetzen kreidebleichen Jungen zum Waldrand brachte.
Als die Ranken den blonden
Jungen tiefer und tiefer in die Vegetation zogen, wurde das Heulen erstickt.
Obwohl seine Hilferufe leiser und leiser wurden, konnte Zahariel ihn immer noch
hören, und der unvorstellbare Schmerz hallte noch lange nach, obwohl die
Dunkelheit ihn längst verschlungen hatte.
Er versuchte, den Schmerz
dieses Jungen auszublenden, da sich das Wetter weiter verschlechterte und die Zahl
der Bewerber vor den Toren beständig kleiner wurde. Immer mehr Jungs entschieden
sich dafür, lieber mit dem Makel des Versagens zu leben, anstatt diese Tortur noch
eine Sekunde länger ertragen zu müssen.
Einige wandten sich an die
Wachleute und flehten sie an, in der Festung Zuflucht suchen zu dürfen und ihre
Mäntel und Stiefel zurückzuerhalten. Andere brachen einfach zusammen, als Kälte
und Hunger zu stark wurden, und wurden von den Wachleuten weggebracht. Welches
Schicksal sie erwartete, war nicht klar.
Bei Sonnenuntergang waren nur
noch zwei Drittel der Anwärter verblieben, und als die Nacht anbrach, zogen
sich die Wachleute ins Innere der Burg zurück, so dass die Jungs die lange
Nacht ganz allein durchstehen mussten.
Die Nacht war die schlimmste
Zeit. Zahariel wand sich, während sein Traum-Ich in der Finsternis zitterte und
so heftig mit den Zähnen klapperte, dass er glaubte, sie müssten zerbrechen. Es
herrschte völlige Stille, die Schreie des Jungen aus dem Wald waren verstummt, und
schließlich hatte auch Hohn und Spott der Wachleute ein Ende.
In der Nacht bewirkte die
Stille und die allzu rege Fantasie der Jungs, dass sie noch mehr Schrecken
empfanden, als die Wachen in ihnen ausgelöst hatten. Die Saat der Furcht war
gesät worden, als die Wachmänner die Raubtiere erwähnt hatten, die angeblich
ihre Kreise um das Kloster zogen. In der Stille der Nacht trieb diese Saat im
Kopf der ausharrenden Jungs die erschreckendsten Blüten.
Diese Nacht hatte etwas Ewiges
an sich, dachte Zahariel.
Sie hatte immer existiert und
würde immer existieren. Die armseligen Versuche der Menschheit, Licht in die Galaxis
zu bringen, waren vergebens und zum Scheitern verurteilt. Nur am Rande wurde
ihm die Fremdartigkeit dieses Konzepts bewusst, das in seinem Kopf Gestalt
annahm und Ideen und Worte zum Ausdruck brachte, von denen er eigentlich gar
keine Ahnung hatte.
Doch er wusste, dass sie der
Wahrheit entsprachen
Danach waren es die Geräusche,
die Zahariel am meisten fürchtete.
Die ganz normalen Geräusche des
Waldes, die er schon tausendmal gehört hatte, waren nun lauter und bedrohlicher
als alles, was ihm je zu Ohren gekommen war. Hin und wieder hörte er etwas, das
nur von einem Raptor, einem Bär oder einem der gefürchteten calibanischen Löwen
stammen konnte.
Das Knacken eines Zweigs,
raschelndes Laub und ein gellender Schrei klangen in der Dunkelheit bedrohlich.
Der Tod lauerte nur ein paar Schritte von ihm entfernt, und am liebsten wäre
Zahariel weggelaufen, um dieser Tortur ein Ende zu setzen. Er wollte zurück in die
Siedlung, in der er geboren war, zurück zu seinen Freunden und seiner Familie,
zu seiner Mutter, die tröstend auf ihn einreden würde, zurück an den warmen Kamin.
Er wollte nicht mehr in den Orden aufgenommen werden und sich auch
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