DGB 06 - Gefallene Engel
vorstellen, dass da jemand
leben soll. Das ist genauso schwer vorstellbar wie eine Welt, auf der alle so zufrieden
sind, dass niemand etwas verändern möchte. Du hattest Recht, Cousin. Unser
Leben ist der Kampf. Der Kampf ist alles, was wir vom Leben erwarten können,
jedenfalls hier auf Caliban.«
Jede weitere Diskussion wurde
durch Meister Ramiels dröhnende Stimme vereitelt, der ihnen vom Torbogen am
anderen Ende des Saals zurief: »Nun beeilt euch mal, ihr zwei! Euch erwartet
heute Abend eine zusätzliche Runde auf den Wachtürmen. Ist euch nicht klar,
dass Bruder Amadis euretwegen warten muss?«
Die Jungs warfen sich begeisterte
Blicke zu, aber es war Nemiel, der als Erster fragen konnte: »Bruder Amadis ist
zurückgekehrt?«
»Aye«, sagte Ramiel.
»Ich sollte euch beide für eure
Unpünktlichkeit zum Küchen-dienst verdonnern, aber leider würde es ein
schlechtes Licht auf eure Kameraden werfen, wenn ihr ihn nicht reden hören
würdet.«
Zahariel lief neben Nemiel her
zum Ausgang, die plötzliche Begeisterung erfüllte ihn mit neuer Energie. Bruder
Amadis, der Held von Maponis ... sein Held.
Der Rundsaal von Aldurukh trug
seinen Namen zu Recht, dachte Zahariel, als er zusammen mit Nemiel durch den
Torbogen schlitterte. Flackernde Fackeln brannten am Eingang und verströmten
den Duft von aromatisiertem Rauch. Der Saal war mit Hunderten Novizen, Rittern
und Anwärtern gut besucht, die sich alle auf den zahlreichen Steinbänken rings
um das große marmorne Podest in der Saalmitte drängten.
In allen Himmelsrichtungen
erhoben sich gewaltige Säulen, die nach innen gewölbt waren und als große Bögen
die immense Kuppeldecke bildeten. Die war in Grün und Gold gehalten, ihre Mitte
schmückte ein ausladender, kreisrunder Leuchter mit zahllosen flackernden
Kerzen darauf.
Die Wände des Saals bestanden
fast vollständig aus Blei-glasfenstern, von denen jedes eine heldenhafte
Geschichte eines Ritters dieses Ordens erzählte. Etliche dieser Darstellungen
betrafen Heldentaten, für die der Löwe oder Luther verantwortlich zeichneten,
doch der größte Teil stammte aus der Zeit, bevor sie zum Orden gekommen waren.
Von diesen Fenstern wiederum war eine stattliche Anzahl dem Krieger gewidmet,
der den Namen Bruder Amadis trug und den man als den Helden von Maponis kannte.
Bruder Amadis war einer der
ältesten Ritter des Ordens, der sich unermüdlich an Lion El'Jonsons Feldzügen
gegen die großen Bestien beteiligte. Ihn kannte die Welt als kühnen und
heroischen Krieger, der alles verkörperte, was man von einem Ritter erwarten
konnte nicht bloß von einem Ritter des Ordens, sondern von einem Ritter
Calibans.
Seine Taten waren epische
Geschichten von Heldenhaftigkeit und Erhabenheit, Abenteuer, die jedes Kind auf
Caliban vom Vater erzählt bekam.
Amadis höchstpersönlich hatte
die Große Bestie von Kulkos getötet und die Ritter in die Schlacht gegen die räuberischen
Blutritter der Endriago-Gewölbe geführt. Vor Jonsons Auftauchen waren viele
davon ausgegangen, dass Bruder Amadis zum Großmeister des Ordens aufsteigen
würde.
Dazu war es dann jedoch nicht
gekommen. Obwohl inzwischen alle fest daran glaubten, dass diese Funktion
Jonson gehören würde, wenn er seine Jagd auf die Bestien erfolgreich
abschließen konnte, hegte Amadis keinen Groll gegen den Löwen. Stattdessen war
er einfach in die Wälder zurückgekehrt, um die Monster zu töten und die Ehre
des Ordens in nah und fern zu demonstrieren.
Die große Anzahl junger
Menschen, die vor den Toren von Aldurukh anstanden und auf Einlass hofften, war
auf seinen guten Ruf mindestens im gleichen Maß zurückzuführen wie auf die
Anwesenheit des Löwen. Zahariel erinnerte sich gut daran, wie an vielen
ungemütlichen Abenden vor dem Kamin die Geschichten zum Besten gegeben wurden,
in denen er die Blutritter vernichtend schlug. Sein Vater wählte stets die
finstersten und unheimlichsten Abende aus, um davon zu erzählen, welche
grausamen, blutigen Feste diese Ritter feierten, mit denen er seinem Sohn Angst
einjagte, bis es dann zur heldenhaften Wendung kam, indem er Amadis auftreten
ließ, der den Anführer der Blutritter in einem einzigen Gefecht vernichtend
schlug.
»Sieht so aus, als wäre absolut
jeder hergekommen«, stellte Nemiel fest, während sie sich die besten Plätze in
den obersten Rängen erkämpften, die ihnen auch zustanden. Sie drängten sich
vorbei an gerade erst aufgenommenen Novizen und Anwärtern, die nicht annähernd
so lange dienten
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