DGB 13 - Nemesis
Waffen der Adligen taten.
Der Mann wiederholte seine
Geste. »Da entlang«, sagte er und holte sie aus den Gedanken, denen sie einen
Moment lang gefolgt war. Ihr wurde klar, dass der Mann irgendetwas zu verbergen
hatte.
»Nein, das glaube ich nicht«,
gab sie zurück, und bevor er wusste, wie ihm geschah, hatte sie ihn aus dem Weg
geschoben und folgte dem Verlauf des Gangs, der hinter einer Kurve leicht
abschüssig wurde. Der Mann wollte nach ihr greifen, um sie zurückzuhalten, aber
sie gab einen Tropfen einer Flüssigkeit aus dem Spender an ihrem Unterarm auf
seinen Handrücken. Die Wirkung setzte sofort ein, der Mann wurde blass und fiel
hin, da die Beinmuskeln ihm den Dienst versagten.
Der Korridor führte in eine
ausladende Höhle mit niedriger Decke. In der Mitte des schwach beleuchteten
Raums stand ein Thermorost, der in einem warmen Orangeton leuchtete. Ringsum standen
mehrere Stuhlreihen, ein paar vereinzelte Kissen und einige irgendwo gerettete
Teppiche lagen auf dem Boden. Eine größere Gruppe Flüchtlinge hatte sich hier
versammelt und saß um eine ältere Frau geschart, die ein aufgeschlagenes Buch
in der Hand hielt. Soalm kam es vor, als wäre sie mitten in eine Art Aufführung
geplatzt.
Die ältere Frau sah die
Assassine und bekam es sichtlich mit der Angst zu tun. Ihr Publikum machte den
Eindruck einer willkürlichen Auswahl aus den Leuten hier im Lager. Zwei von
ihnen, die beide zu den Kämpfern gehörten, sprangen auf und kamen auf Soalm zu,
wobei sie eine drohende Miene aufsetzten, wohl um sie einzuschüchtern.
Soalm hob die Hände, um sich
zur Wehr zu setzen, da rief die ältere Frau: »Nein, halt! Wir lassen hier keine
Gewaltanwendung zu!«
»Milady ...«, begann einer der
anderen Zuhörer, aber sie bedeutete ihm mit einer knappen Geste, dass er ruhig
sein sollte. Dann wandte sich die Frau Soalm zu, die deren Gesicht ansehen
konnte, dass sie es in ihrem Leben immer gut gehabt hatte.
Die ältere Frau schob sich
durch den Ring ihrer Zuhörer und baute sich vor dem Eindringling auf. »Ich bin
... ich war Lady Astrid Sinope. Ich habe keine Angst vor Ihnen.«
Daraufhin legte Soalm den Kopf
ein wenig schräg. »Das ist nicht wahr.« Sinopes aristokratisches Auftreten
erhielt dadurch einen Dämpfer. »Nein ... damit dürften Sie recht haben.« Dann
riss sie sich wieder zusammen. »Seit wir von Beye wissen, dass Sie auf Dagonet
sind, wusste ich, dieser Augenblick würde irgendwann kommen. Ich wusste, einer
von Ihnen würde uns entdecken.«
»Einer von uns?«
»Einer von den Kriegern des
Imperators«, fuhr sie fort.
»Capra sagte, Sie sind die
Instrumente seines Willens. Also, dann tun Sie, was Sie tun müssen.«
»Ich verstehe nicht ...«,
begann Soalm, doch die Frau redete bereits weiter.
»Ich möchte Sie nur darum
bitten, dass Sie gegenüber meinen Freunden hier Gnade walten lassen.« Sie hielt
das schwere Buch hoch. »Das habe ich nach Dagonet mitgebracht. Ich habe es zum
Widerstand mitgebracht, nachdem ich vor dem Verrat meines früheren Adelsclans
geflohen war. Wenn jemand dafür leiden muss, sollte ich diejenige sein.« In ihren
Augen schimmerten unvergossene Tränen. »Wenn ich Sie anflehen muss, werde ich
auch das tun. Bitte tun Sie den anderen nichts.« Niemand sprach ein Wort, als
Soalm an den beiden Kriegern vorbeiging und der alten Frau das Buch aus den
zitternden Fingern nahm. Laut las sie die oberste Textzeile auf der
aufgeschlagenen Seite vor: »Der Imperator beschützt.«
»Wir suchen nur Trost in seinem
Namen«, erklärte Sinope im Flüsterton. »Ich weiß, es ist verboten, offen über
das Göttliche zu reden, das ihn betrifft, aber wir machen das nur in unserem
kleinen Kreis. Wir predigen nicht, und wir versuchen auch nicht, jemanden zu
bekehren.« Sie faltete die Hände. »Wir sind so wenige, und wir nehmen auch nur
diejenigen auf, die aus freiem Willen zu uns kommen.« Soalm strich mit einem
Finger über die eng gedruckten Buchstaben. »Sie sind Anhänger der Lectitio
Divinitatus . Sie halten den Imperator für einen lebenden Gott ... für den
einzigen Gott.«
Sinope nickte ernst. »Und ich
werde für diesen Glauben sterben, wenn es nötig ist. Aber versprechen Sie mir
bitte, dass ich als Einzige sterben muss. Bitte! «
Dann endlich wurde ihr das
Verhalten der Frau klar.
»Ich bin nicht hergekommen, um
Sie zu töten«, sagte sie.
»Ich ... wir wussten nicht mal,
dass Sie hier sind.« Ein eigenartiges Gefühl überkam sie, als die anderen auf
diese Worte
Weitere Kostenlose Bücher