Dhalgren
sie? Am Rand von Wahrheit und Lügen. Nicht Wahrheit und Falschheit - Oh nein. Nichts so Großartiges. Wir sind in den Abgrund kleiner diskreter Schwindeleien versunken, unschuldiger Fehleinschätzungen, brillanter Spekulationen, die sich als falsch herausstellen und töten - Oh, es gibt im Universum so viel weniger Wahrheit als alles andere. Ja, selbst hier versinken wir unter der Fülle von Sprache, unter der Flugasche der Begierde.« Glas berührte Kids Arm. Er sah befremdeter aus als Kid sich fühlte. An den Wänden hingen Laternen. Auf dem blutfarbenen Linoleum lagen unscharfe Schatten. Neben ihnen war gebauschtes Kreppapier hinter die . . . nein, keine Palmen, Kakteen! gefallen. »Ihr habt also den Mond gesehen! Ihr habt also den George gesehen - den rechten und linken Hoden Gottes, so schwer vom Morgen, daß sie durch den Schleier brachen und nackt über uns baumelten? Und was war das heute am Himmel? Gottes Schoß, nach außen gewölbt und von Ihrem Blut brennend, das aussah, wie einen Moment alt. Sie hat das Ei der Erde und den polaren Körper, den wir so höflich aus der Einzigartigkeit gehoben haben, weitergegeben? Ist Gott eine Sau, die ihre Jungen verzehrt und Sodbrennen bekommt? Ist Gott die Viper ouroborus, die an der Spitze ihres eigenen Schwanzes würgt? Oder ist Gott einfach ein kategorialer und konzeptueller Fehler wie Ryles Geist, ein Prozess, den die Materie des Universums präformiert, duldet oder sich selber auferlegt, ob aus Notwendigkeit oder Zufall, aus arkanischen Gründen, die ihr und ich niemals verstehen werden? Sein ist eine Funktion der Zeit, eh Martin? Aber wohin gelangen wir damit? Das erscheint mir ziemlich wichtig . . . denn es ist nur ein Loch, ein kleines Loch, an dessen Rand wir einen Augenblick lang hocken dürfen um diesen für uns alle schrecklichen Fluß zu beobachten, tragisch für einige, durch den die Zukunft zischt, um den Armsünderfriedhof der Vergangenheit zu bevölkern. Sehr tief, in der Tat, und ausgetrocknet. Und staubig. Und löchrig hart wie ein ausgetrockneter Schwamm. Was bedeutet ein Feuerball hier, heute? Oder nur ein Feuerklumpen zu seiner großen Erleichterung aus dem kosmischen Gedärm gepreßt? Vielleicht war es unsere Sonne, die auf ihrem Weg woandershin vorbeitaumelte, und jetzt wird es bei uns immer kälter und kälter, jeden Tag, überall, und wir müssen das so gelassen wie möglich aufnehmen. Wie lange hat dieses Licht gedauert? Oh, meine armen, kranken, verdammten und bald ausgelöschten Kinder, fragt lieber, wie lange die Dunkelheit dauern wird, die auf euch wartet.«
Es war keine - bemerkte Kid - sonderlich ruhige oder aufmerksame Versammlung - außer den dreißig oder vierzig, die sich eng um das Podium des Reverend geschart hatten. Die Leute gingen herum, redeten, und irgendwo begann Gelächter, das die Worte schwer verstehbar machte. Oben auf dem dunklen Balkon schliefen weit voneinander entfernt einige Leute wie dunkle Flecken auf den dunkelbraunen Sitzen. Jemand bewegte sich am Geländer entlang und überprüfte die Scheinwerfer; keiner schien zu funktionieren. Fett, kahl, terracotta-farben, nur mit einer Latzhose bekleidet, stand er auf, wischte sich die Stirn mit dem Arm und ging zur nächsten kaputten Lampe.
In die Wände waren hohe, vergitterte Fenster eingelassen. Als Kids Augen an ihnen entlangwanderten, rannte eine Gruppe von sechs Frauen und Männern mittleren Alters durch den Raum: Eine Frau fiel über eine Statue, die ein Mann auffing und sich bemühte, wiederaufzurichten, bis ein Gipsflügel herabfiel. Gips verstreute sich über dem Boden. Andere scharten sich zusammen und lachten, riefen Ratschläge.
Hinter ihnen wedelte Reverent Taylor mit den Armen, duckte den Kopf und warf ihn zurück, redete leidenschaftlich gegen den staubigen Boden, die im Schatten liegende Decke; doch nur ein oder zwei Worte erhoben sich deutlich über das Rufen und Lachen.
Die Gruppe teilte sich vor einem plötzlichen Durchbruch weißer Fußabdrücke: George Harrison schritt hinüber.
Ein Arm lag um den Hals einer gelbhaarigen, rosa Frau, die andere um die Hüfte eines hageren, gebräunten Mädchens mit ziegelfarbenem Afrolook und Sommersprossen. (Er hatte sie in der Kirche zusammen mit dem blonden Mexikaner gesehen, der ihn auf der Straße angehalten hatte, wie viele Morgen später, vor wie vielen Morgen?) George sah Kid, ging zu ihm hinüber und rief: »Hey, da bist du also! Shit!« Die Ärmel waren hoch über die kaffeefarbenen Arme hinaufgerollt.
Weitere Kostenlose Bücher