Dhampir - Seelendieb
ihrer bunt zusammengewürfelten Architektur, die einen Hinweis auf Geschichte und Wachstum der Stadt bot. Sie verfügte über einen in die Jahre gekommenen Reiz, der noch kein Opfer des Verfalls geworden war.
Der Stadtrat hatte fünf Jahre lang verhandelt, bis die fremden Gelehrten, die Weisen, bereit gewesen waren, aus der Ferne nach Bela zu kommen. Gerüchten zufolge freuten sich die Stadträte darüber, denn es bedeutete, dass in der Stadt eine kleine Bibliothek mit alten Schriftrollen und Dokumenten entstehen würde, gehütet von sehr klugen Männern und Frauen, die sich versammelten und solche Archive pflegten. Im Lauf der Zeit, so hofften sie, würde aus der kleinen Bibliothek eine große werden. Dies war die erste derartige Niederlassung der Weisen auf dem ganzen Kontinent. Chane besuchte sie regelmäßig und hatte dabei viel über ihre Herkunft erfahren.
Die erste Gruppe hatte sich vor fast zweihundert Jahren in einem Land namens Malourné gebildet, im Westen auf der anderen Seite des Ozeans, an der fernen Küste des dortigen Kontinents. Der Gilde standen die alte Festung und das Schloss jenes Königreichs zur Verfügun g – sie hatte beides bekommen, als ein neuer Regierungssitz für die Monarchen errichtet worden war. Malourné war das älteste Königreich im sogenannten numanischen Land.
Es gab auch eine Zweigstelle der Gilde in der südlichen Hälfte des Kontinents, in der kaiserlichen Stadt Samau’a Gaulb, »Herz des Himmels«, der Hauptstadt sowohl des Landes Il’Dha’ab Najuum als auch des ganzen Sumanischen Reiches. Eine dritte Niederlassung sollte es im Elfenland irgendwo in der Mitte des Kontinents geben.
Nach dem Großen Krieg, von dem es hieß, dass er vor etwa fünfhundert Jahren stattgefunden hatte, lag die Zivilisation auf jenem Kontinent in Schutt und Asche. Es war so viel zerstört und verloren gegangen, dass die Gilde der Weisheit zur Zeit der Monarchen von Malourné als Absicherung für den Fall einer weiteren Katastrophe dieser Art gegründet wurde.
Chane hatte die wenigen Berichte gelesen, die in die Zeit vor der Gründung der Königreiche von Belaski, Strawinien und Dröwinka zurückreichten. Es war sehr wahrscheinlich, dass sich der von den Weisen erwähnte Krieg auch auf diesem Kontinent ausgewirkt hatte, obwohl ihm die Vorstellung von einem so gewaltigen Konflikt manchmal übertrieben erschien. Es waren Geschichten von Monstern und abscheulichen Horden, von Jahren des Kampfes gegen Angreifer von jenseits des Ozeans. Es hieß sogar, dass auch die ersten Bewohner dieses Kontinents ums Leben gekommen waren; später eingewanderte Stämme und Clans hätten ihren Platz eingenommen.
Und jetzt hatten sich die Weisen der Gilde in Chanes Heimat niedergelassen.
Die fernen Bibliotheken und Archive in der Größe von Schlössern überforderten seine Vorstellungskraft. Eines Tages wollte er sie mit eigenen Augen sehen, die Pergamente mit seinen Fingern berühren und fremde Sprachen lesen, die von vergangenen Zeiten und verlorenen Mysterien berichteten. Er wollte eintauchen in ein Wissen, das Gelehrte über Jahrhunderte hinweg gesammelt hatten. Wie viele neue Erkenntnisse für seine speziellen Künste konnte er an solchen Orten finden? Und was konnte er über die Edlen Toten in Erfahrung bringen? Vielleicht gab es Hinweise, die ihm dabei helfen würden, sich von Toret zu befreien. Jetzt war die Gilde hier, und möglicherweise fand er mit ihrer Hilfe den Schlüssel zur Freiheit.
Chane war noch immer in Gedanken versunken, als er geistesabwesend um eine Straßenecke bog. Ein Stück vor ihm öffnete sich ein Tor in der mittleren Mauer der Stadt. Zwei in Kettenhemden gekleidete Sträzhy-shlyahketné – die offiziellen Wächter der Stad t – standen entspannt, aber aufmerksam neben dem großen, granitenen Portal. Sie schenkten ihm nicht mehr als beiläufige Beachtung.
Chanes Ziel befand sich direkt an der Mauer. Als er es erreichte, blieb er stehen und nahm den Anblick im gelben Schein der Straßenlaternen in sich auf. Seine Visionen von großartigen Enklaven der Bildung lösten sich auf wie Rauch im Wind.
Platz war in dieser Stadt Mangelware, und man munkelte, dass der Rat es für besser gehalten hatte, die ausländischen Gesandten nicht zu nahe beim königlichen Palastgelände unterzubringen. Die neue Niederlassung des belaskischen Zweigs der Gilde der Weisheit war in einer alten, außer Dienst gestellten Kaserne untergebracht. Im Lauf der Zeit war die Wache von Bela immer mehr
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