Dhampir: Steinerne Flut (German Edition)
Bild formte, das Schattens Vater Chap zeigte.
Schatten schnaubte in der Nähe.
Wynn aktivierte mehr Willenskraft, rückte das imaginäre Muster auf dem Boden und Chap wieder in den Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit. Das Bild zeigte ihn so, wie sie ihn mit ihrer mantischen Sicht gesehen hatte: Sein Fell schimmerte, als bestünde es aus einer Million Seidenfäden, die in blauweißem Licht glitzerten. Weißer, langsam aufsteigender Dunst umgab seinen Körper.
Weitere Sekunden verstrichen, doch die mantische Sicht stellte sich nicht ein.
Der Schmerz in Wynns Knien bedrohte ihre Konzentration. Sie hielt die Erinnerungen an Chap fest, wie er hell leuchtete hinter dem Kreis, der das Element Geist symbolisierte. An dieser Vorstellung klammerte sie sich fest.
Plötzlich erfasste sie Schwindel.
»Wynn?«, flüsterte Chane.
Sie schien zu fallen.
Wynn streckte die Hände aus, fühlte mit ihnen aber nicht rauen Steinboden, sondern kaltes, glattes Metall. Überrascht öffnet sie die Augen, und Übelkeit erfasst sie. In ihrer Magengrube krampfte sich etwas zusammen.
Wynn blickte auf und durch die eiserne Tür.
Sie schien noch dicker zu sein als erwartet. Irgendwo in der Nähe verwandelte sich Schattens Jaulen in ein dumpfes Knurren.
Ein weißes, leicht bläuliches Leuchten durchdrang das Eisen. Die physische Präsenz der Tür dominierte noch immer in Wynns Wahrnehmung, aber es gab noch mehr, jenseits davon. Die blassen Konturen eines großen Raums wurden sichtbar.
Schattens Jaulen war so nahe, dass Wynn es als fast schmerzhaft laut empfand. Sie sah zur Seite – und schnappte nach Luft.
Für einen Moment war Schatten so schwarz wie eine mondlose Nacht.
Dann begriff Wynn, dass die Dunkelheit vom Fell stammte. Darunter zeigte sich ein starkes blauweißes Schimmern, intensiver als alles andere in ihrer mantischen Sicht. Als sie genau hinsah, zeigte sich das Element des Geistes in jedem einzelnen Haar des dunkelgrauen Fells. In Schatten glühten die Feen-Ahnen ihres Vaters, so hell, dass Wynn den Blick abwenden musste.
»Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte Chane.
Sie sah ihn an, benutzte ihn als eine Art Anker.
Er wirkte genau wie vorher, unverändert, aber nur wegen des Rings des Nichts. Solange Chane ihn trug, konnte niemand ihn als Untoten erkennen.
»Ja«, brachte Wynn hervor und wandte sich schnell wieder der Tür zu.
Sie hatte das Gefühl, durch die Tür zu sehen, in einen Raum, von dessen Wänden ein inneres Leuchten ausging. Bevor die Übelkeit zurückkehren konnte, ließ sie rasch ihren mantischen Blick durch den Raum wandern und suchte nach Hinweisen auf Eingänge von anderen Tunneln.
Es gab keine.
Schatten hatte die Herzogin und die Steingänger an diesem Ort gesehen, war aber zurückgewichen, als sich der in Weiß gekleidete Elf umgedreht hatte. Sie konnte also nicht beobachtet haben, wer durch die Tür gegangen war und wer nicht. Zuerst hatte Wynn angenommen, dass die Herzogin und ihre Begleiter einen anderen Weg genommen hatten. Aber wenn Herzogin Reine in den Raum gegangen war …
Der Raum jenseits der Tür wies nur ein besonderes Merkmal auf: einen großen dunklen Kreis im Boden. Wynn konzentrierte sich noch etwas mehr und nahm vage Spuren des Geistes im Stein wahr, in der Nähe des etwa vier Meter durchmessenden Loches.
Sie richtete ihren mantischen Blick nach unten und ließ ihn durch den Boden gleiten, folgte mit ihm den blauweißen Schlieren. Aber Stein und Eisen waren sehr dicht, und der Geist schien sich in ihnen zu verlieren. Seine Spuren wurden immer undeutlicher, ohne irgendwelche Einzelheiten zu verraten. Wynn war nicht einmal imstande, das Ende des tiefen Schachtes zu erkennen.
Sie dachte an das Knirschen in Schattens Erinnerungen. Nur ein Mechanismus konnte ein solches Geräusch erzeugen, zum Beispiel ein Aufzug. Doch in dem Raum jenseits der Tür gab es keine Ketten und Zahnräder, nichts, das auf die Existenz eines solchen Mechanismus hingedeutet hätte. Was auch immer die Ursache jenes Geräuschs gewesen sein mochte, die Steingänger waren fort. Und wenn die Herzogin den Raum betreten hatte, so war sie mit ihnen gegangen.
Warum?
»Was siehst du?«, fragte Chane.
»Einen düsteren Raum … mit einem dunklen Loch im Boden.«
Wynn spürte neue Übelkeit, als sie diese Worte sprach. Sie wollte sich abwenden, als sie auf der linken Seite etwas Sonderbares bemerkte.
Zuerst sah es nach einigen Stangen aus, die vielleicht auf einem Sims neben der Tür lagen. Als Wynn genauer hinsah
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