Dhampir: Steinerne Flut (German Edition)

Entfernung. Mehr ließ sich nicht erkennen, denn es fehlten Wandhalterungen mit Kristallen.
    Schatten stand dort, wo die beiden Tunnel begannen, sah erst in den einen und dann in den anderen.
    »Was ist los?«, fragte Chane.
    Wynn ging in die Hocke und legte die Hand auf Schattens Rücken, woraufhin die Hündin den Kopf drehte und leise jaulte. Wynn versuchte sich an die Gestalt im Kapuzenmantel zu erinnern, die Schatten ihr aus Splitters Erinnerungen gezeigt hatte. Es fiel ihr nicht leicht, denn es war kein von ihr selbst stammendes Erinnerungsbild. Schatten jaulte erneut.
    »Sie weiß nicht, welcher Tunnel der richtige ist«, sagte Wynn. »Vielleicht hat Splitter Erz-Locken hier aus den Augen verloren, oder Schatten hat nicht alle den Weg betreffenden Erinnerungen von Splitter empfangen. Wir sind schon ziemlich weit gekommen und …«
    »Dann müssen wir raten und …« Chane beendete den Satz nicht.
    Er senkte den Kopf und drehte ihn mit halb geschlossenen Augen zur Seite.
    »Was ist?«, fragte Wynn.
    Er zögerte und antwortete dann: »Schritte. Eine Gruppe ist unterwegs …« Er unterbrach sich erneut.
    Chane drehte sich um und sah in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Schatten trat an Wynn vorbei, folgte Chanes Blick und schnüffelte.
    »Sie kommen!«, flüsterte Chane.
    »Wer?«
    Dann hörte sie ebenfalls Schritte, von mehreren Personen. Schatten schnappte nach ihrer Kutte und zog.
    »Lösch das Licht des Kristalls!«, hauchte Chane.
    Wynn steckte ihn in die Tasche, und dann eilten sie in den rechten Tunnel. Chane lief voraus, drückte sich dann an die Wand und bedeutete der jungen Weisen, seinem Beispiel zu folgen.
    »Wir müssen weiterlaufen, wenn sie diesen Weg nehmen«, flüsterte er.
    Wynn spähte in die Dunkelheit und fragte sich, warum sie sich versteckten. Am Ende des langen Bogens, den der Tunnel beschrieb, konnte sie gerade so die Stelle erkennen, an der sich der Haupttunnel teilte, und dort wurde es allmählich heller. Chane zog sich die Kapuze seines Mantels über den Kopf, und Wynn nahm sich auch daran ein Beispiel.
    Das Licht im Haupttunnel wurde deutlicher – es kam von der Hand einer großen, schlanken, in Weiß gekleideten Gestalt.
    »Der Elf«, flüsterte Chane.
    Wynn sah zu ihm hoch. War es das, was er zuvor wahrgenommen hatte? Hinter dem großen Elfen kam eine wesentlich kleinere Person in einem meergrünen Mantel, gefolgt von drei Weardas.
    Herzogin Reine trug ein Kleiderbündel.
    Chane ergriff Wynns Hand, und sie drückten sich beide flach an die Wand. Sie wusste, dass er sich bereit machte, von einem Moment zum anderen loszulaufen, und seine Hand fühlte sich kalt wie Stein an. Schatten stand direkt neben ihr und beobachtete die Gestalten im Haupttunnel aufmerksam.
    Die Herzogin näherte sich dem Elfen, der einen hell leuchtenden Kaltlampen-Kristall hob.
    Ja, es handelte sich tatsächlich um einen solchen Kristall, und das erstaunte Wynn. Es gab keinen Orden der Gilde, dessen Angehörige Weiß trugen. Woher also stammte der Kristall in der Hand des Elfen?
    Die Herzogin trat an ihm vorbei und in den linken Tunnel. Der hochgewachsene Elf folgte ihr, ebenso die Leibwächter, und kurz darauf waren sie verschwunden.
    Chane ließ Wynns Hand los. »Lass uns zunächst in diesem Tunnel weitergehen.«
    »Nein, warte«, flüsterte sie.
    Wynn fragte sich, warum die Herzogin durch diese abgelegenen Tunnel unter Meerseite wanderte, in denen Splitter ihrem Bruder gefolgt war. Sie machte einen Schritt in Richtung Haupttunnel.
    »Was hast du vor?«, zischte Chane.
    »Du hast sie gesehen«, erwiderte Wynn leise. »Bei der Trauerfeier bekamen nur sie und ihre Begleiter die Erlaubnis, den gleichen Weg zu nehmen wie die Steingänger.«
    Es war so dunkel, dass sie Chanes Gesicht nur als vagen Schemen erkennen konnte, aber sie hörte den Ärger in seiner Stimme.
    »Bei der eisernen Tür des Amphitheaters hast du gesagt, du wüsstest nicht, ob sie die Steingänger begleitet hat.«
    »Trotzdem«, entgegnete Wynn. »Dies ist der beste Anhaltspunkt, den wir haben.«
    Auf leisen Sohlen schlich sie durch den Tunnel und achtete nicht darauf, dass Schatten plötzlich schnaubte und knurrte. Als sie weiter oben den Beginn des Tunnels erreichte und vorsichtig um die Ecke spähte, in die linke Abzweigung, entfernte sich dort das Licht des Kristalls in der Hand des Elfen.
    Wynn wollte der Gruppe folgen, aber Chane hielt sie an ihrer Kutte fest. Sie richtete einen verärgerten Blick auf ihn, aber er ließ nicht los.