Dhampir: Vergessene Zeit (German Edition)
arbeiten muss.«
»Kommt nicht infrage«, erwiderte der Domin scharf. »Ohne meine Aufsicht wirst du nicht daran arbeiten. Wenn ich doch nur einen Weg fände, dich von deinem … Talent zu befreien.«
Daraufhin kniff auch Wynn die Augen zusammen.
Von all den Weisen hier in der Gilde wusste nur il’Sänke von ihrer Gabe, und sie bemerkte den dünnen Schweißfilm auf seiner Stirn. Er war ein fähiger Magier, und trotzdem hatte es ihm Mühe bereitet, mit ihrer mantischen Sicht fertigzuwerden. Dem feengeborenen Chap war das viel leichter gefallen.
Als Wynn il’Sänke von ihrem Anliegen erzählt hatte, war er sehr besorgt gewesen und hatte ihr sofort angeboten, ihr »Leiden« zu heilen. Sie hatte erst gezögert und dann abgelehnt. Davon war er alles andere als begeistert gewesen, und er hatte darauf bestanden, dass sie ihre Mantik ohne ihn nicht erprobte.
Wynn fragte sich, warum er ihr mit solchem Nachdruck angeboten hatte, sie von der mantischen Sicht zu befreien.
Der Domin ergriff sie an der Schulter und schob sie zur Tür.
»Deine Arbeit kann warten. Komm.«
Ärger regte sich in Wynn, und sie hätte am liebsten abgelehnt. Andererseits … Il’Sänke hatte ihr geholfen, und ihr fiel keine höfliche Möglichkeit ein, ihn zurückzuweisen. Sie ließ sich von ihm in den Flur führen.
Dort kamen sie an den Türen von Zimmern anderer Lehrlinge und reisender Weisen vorbei. Sie gingen eine schmale Treppe hinab und durch eine alte Eichentür. Auf dem Innenhof brachte il’Sänke Wynn zu der Doppeltür, die sie zuvor von ihrem Fenster aus beobachtet hatte. Der Domin zog einen Türflügel auf, und warme Luft, die ein wenig nach Rauch roch, strömte ihnen entgegen; leise Stimmen erklangen.
Wynn zögerte, und il’Sänke wartete geduldig, bis sie schließlich durch die Tür trat. Sie folgte il’Sänke, als er sich nach links wandte und durch den Gang schritt, der einst Teil des großen Schlosssaals gewesen war.
Sie liebte diesen Ort, diese alte Festung, trotz ihrer Erfahrungen in jüngster Zeit. Vor mehr als vierhundert Jahren hatten hier die ersten Herrscher von Malourné gewohnt, damals, als Calm Seatt noch keine richtige Stadt gewesen war. Schon zu jener Zeit hatten sie Pläne für ein neues, größeres Schloss entwickelt. Der königliche Hof war umgezogen, und über Jahrhunderte hinweg hatte dieses erste Schloss als Kaserne für die Streitkräfte des Königs gedient.
Zweihundert Jahre später wünschte sich Königin Âlfwine II . mehr. Einige Gelehrte der Geschichte glaubten, dass es ihr um eine üppigere Residenz ging, um mehr Luxus und Komfort, aber andere vertraten die Ansicht, dass sie wie ihre Vorfahren das Meer sehen wollte. Die Königlichen hatten sich sonderbarerweise immer zum offenen Wasser hingezogen gefühlt. Noch immer wusste niemand, warum das Meer die Angehörigen der Familie Âreskynna rief. Selbst der Name bedeutete »mit den Wellen des Ozeans verwandt«.
Âlfwine II . ließ ein großes Schloss näher bei der Beranlômr-Bucht entwerfen. Das Militär der Nation zog ins zweite Schloss um, ebenso die Stadtwache, die zusammen mit der Polizei für Ordnung sorgte. Das erste Schloss – das älteste und kleinste – wurde der damals noch jungen Weisengilde übergeben.
Mithilfe der Zwerge aus Dhredze Seatt auf der anderen Seite der Bucht war das erste Schloss entsprechend den Bedürfnissen der Weisen umgebaut worden. Die überaus geschickten Steinmetze der Zwerge hatten beim Bau aller drei Festungsanlagen mitgearbeitet, und sie halfen den Weisen dabei, dem ersten Schloss neue Gebäude hinzuzufügen.
In der Mitte des Gildenschlosses befand sich ein viereckiger Innenhof mit Gebäuden an den hohen Mauern. Die Räume in den runden Wachtürmen dienten jetzt als Arbeitszimmer für die Domins und Premins. Wynns Zimmer befand sich im zweiten Stock der alten Kaserne auf der Südostseite des Hofes.
»Vielleicht ist noch etwas Zimtbrot von heute Morgen übrig«, sagte der vor ihr gehende il’Sänke.
Wynn lächelte fast. Der sumanische Weise liebte Kuchen und gewürztes Brot, worin vielleicht mehr Sehnsucht nach seiner Heimat zum Ausdruck kam, als er zugab. Sie folgten dem Verlauf des Ganges, passierten einen Torbogen und erreichten den großen Saal.
Einst hatten die Königlichen von Malourné hier adlige Gäste und Würdenträger empfangen. Jetzt diente der Saal der Gilde als Gemeinschaftsraum und war gefüllt mit nicht zueinanderpassenden Tischen, Stühlen und Sitzbänken. Viele Weise verbrachten hier einen
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