Dhampir: Vergessene Zeit (German Edition)
als Hauptmann der Stadtwache hätte Rodian dieses Geschenk nicht annehmen sollen. Er schwieg, wenn Kollegen nach Schneevogels Ursprung fragten, aber wahrscheinlich wussten sie, woher das Pferd stammte.
Die Fensterläden des Ladens waren intakt, jedoch zugezogen. Rodian drückte die Klinke und musste feststellen, dass die Tür verschlossen war. Er erinnerte sich an Wynns Geschichte und konnte sich kaum vorstellen, dass ein junger Weiser wie Jeremy auch nur in die Nähe eines solchen Ortes kam.
»Ist seit zwei Tagen weg«, krächzte jemand.
Eine alte, zahnlose Frau kam näher. Ihr dünnes Haar ragte unter einem vergilbten Kopftuch hervor.
»Bist du sicher?«, fragte Rodian.
Die Alte nickte, was Bewegung in ihr schwabbeliges Gesicht brachte. »Er bekam eine Vorladung vor Gericht, haben wir gehört. Geschieht ihm recht, dem verdammten Blutsauger.«
Geldverleiher wurden oft gehasst, selbst jene unter ihnen, die über eine ordnungsgemäße Lizenz verfügten. Es blieb Rodian ein Rätsel, warum sich arme Leute Geld zu hohen Zinsen liehen. Er griff in die Tasche, auf der Suche nach einem Kupfergroschen. Doch er fand nur eine Silbermünze und gab sie der Alten.
»Wenn er zurückkehrt … Du hast mich nicht gesehen.«
Die Alte schnaubte spöttisch, nahm die Silbermünze aber und schlurfte fort.
Rodian schwang sich wieder in den Sattel und ritt nach Nordwesten. Seltsamerweise war Selwyn Midtons Zuhause ein ganzes Stück von seinem Laden und dem Grauland-Reich entfernt. Und seit zwei Tagen kam er nicht mehr zur Arbeit.
Nach einer Weile erreichte Rodian ein Wohnviertel mit Esslokalen und Ständen, an denen Brot, Gemüse und andere Lebensmittel verkauft wurden. Die Häuser waren klein und bescheiden, aber in einem tadellosen Zustand; die Bewohner schienen stolz auf ihr Viertel zu sein. Je weiter nach Westen Rodian kam, desto größer wurden die Gebäude, bis er Schneevogel schließlich vor einem zweistöckigen Haus mit schmiedeeisernem Tor zügelte. Er überprüfte noch einmal die Adresse und stieg ab.
Wie konnte sich ein Geldverleiher aus dem »Grauland-Reich« ein solches Haus leisten? Solchen Parasiten ging es besser als jenen, die sie aussaugten – aber nicht so viel besser.
Eine junge Frau mit fleckiger Schürze kam mit zwei großen Milchflaschen um die Ecke des Hauses. Als sie versuchte, sich beide unter einen Arm zu klemmen, öffnete Rodian das Tor für sie.
»Danke, Herr.«
Er wartete, bis sie die leeren Flaschen in ihren Karren gestellt hatte, bevor er durch das Tor trat.
»Komm, Schneevogel«, sagte er.
Die Stute folgte ihm und drückte ihm die Schnauze ans Gesicht. Er führte sie vom Bürgersteig herunter.
»Bleib hier.«
Rodian schloss das Tor und ging zum Haus.
Ein Klopfer aus Messing hing an der Tür aus massivem Mahagoni. Erneut fragte sich Rodian, ob dies wirklich das richtige Haus war – vielleicht hatte Selwyn Midton dem Gericht eine falschen Adresse genannt. Er schlug mit dem Klopfer, und wenige Sekunden später wurde die Tür geöffnet. Rodian sah sich der hässlichsten Lady gegenüber, die er bisher gesehen hatte.
Sie war so groß wie er und weder dick noch dünn, aber irgendwie klotzig und klobig, vom Hals bis zu den Hüften. Eine zwei Finger breite Nase saß über einem Mund, der nicht mehr war als ein Schlitz über dem Kinn. Die Haut war blass, das einst dunkle Haar ergraut. Eine eher ungeschickte Zofe hatte es zu Zöpfen geflochten, die wie eine von der Sonne gebleichte Seilrolle auf ihrem Kopf lagen.
Aber sie trug ein gut geschnittenes, schokoladenbraunes Samtkleid, und kleine Rubine baumelten an dicken Ohrläppchen. Die Augen waren klein, ihr Blick durchdringend.
Rodian begriff, dass ihn das Aussehen der Frau weniger störte als die Aura kühler Sachlichkeit, in die sie gehüllt war.
»Ja?«, fragte sie, und bei ihrer hohlen Stimme fühlte er plötzliche Kälte.
»Frau Midton?«
»Ja.«
Es war das richtige Haus.
»Ich bin Hauptmann Rodian von den Shyldfälches und möchte mit Eurem Mann sprechen.«
»Warum?«
Er hatte gehofft, sie mit dem Hinweis auf seinen Rang zu beeindrucken, aber die Frau blieb abweisend.
»Es geht um eine Angelegenheit der Stadt«, erwiderte Rodian. »Ist er zu Hause?«
Die Andeutung von Ärger im Gesicht der Frau wies ihn darauf hin, dass sie nichts von den gerichtlichen Vorladungen wusste. Sie trat zurück und ließ ihn widerwillig eintreten.
Ein dicker, dunkler Teppich bedeckte den Boden der Diele, und Rodian bemerkte einen Garderobenständer aus
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