Dhampir: Vergessene Zeit (German Edition)
geöffnet worden war, hatte man darauf geachtet, dass eine breite Straße mit Kopfsteinpflaster frei blieb, die an der Außenseite der inneren Mauer verlief. Vom Zentrum des Schlosses aus waren nur die Rückseiten der Gebäude auf der anderen Seite jener Straße zu sehen. Ihre Vorderfronten zeigten zur Stadt, und dort waren die meisten Menschen unterwegs, auf den Bürgersteigen und Straßen vor den Schaufenstern der Geschäfte und Läden. Doch wenn man diesseits der Mauer an einem stillen Ort verharrte, wie zum Beispiel im Arboretum, konnte man gelegentlich einen Passanten hören.
»Hau ab, Köter! Weg von meinem Müll!«
Die zornige Stimme unterbrach Wynns Gedankengänge, und sie sah an der Mauer hoch, die höher war als der Spieß eines Fußsoldaten lang. Sie vermutete, dass der Koch eines nahen Esslokals durch den Hinterausgang nach draußen gekommen war und einen Hund verscheuchte.
Wynn ging weiter durch den Garten.
Das Tomatenbeet lag leer da. Die Früchte, die es hervorgebracht hatte, waren für den Winter in der Sonne getrocknet worden. Wynn starrte darauf hinab und überlegte, was sie nach Premin Skyions Weigerung, ihr die Tagebücher aus den Fernländern zurückzugeben oder sie die Texte lesen zu lassen, tun sollte.
»Warum streiten sie ab, dass die Verbrechen etwas mit der Übersetzungsarbeit zu tun haben?«
Wynn zog sich den Mantel enger um die Schultern, als der Herbstwind Espenblätter auf sie herabregnen ließ. In letzter Zeit führte sie oft Selbstgespräche.
Hochturm und Skyion hatten ihr das Leben seit ihrer Rückkehr nicht leicht gemacht, aber sie waren keine Narren. Selbst wenn sie nicht für möglich hielten, was Wynn vermutete, dass der Mörder ein Untoter war … Sie mussten doch einsehen, dass Gildenmitgliedern, die mit Folianten unterwegs waren, Gefahr drohte.
Seit einem halben Jahr wurde an der Übersetzung der Texte gearbeitet, und jetzt hatte es allem Anschein nach jemand auf das jüngste Material abgesehen. Wer auch immer dahintersteckte, er kannte das Begaine-Syllabar; andernfalls wäre der Inhalt der Folianten wertlos für ihn gewesen.
Aber wie hatte jemand außerhalb der Gilde genug von den Texten erfahren, um sie in seinen Besitz bringen zu wollen? Abgesehen von jenen, die unmittelbar am Übersetzungsprojekt beteiligt waren, wussten die meisten Gildenmitglieder vom Inhalt der alten Texte noch weniger als Wynn. Es sei denn …
Es sei denn, jemand in der Gilde – ein hochrangiger Weiser – hatte etwas gelesen, dem große Bedeutung zukam.
Aber was konnte jemanden dazu bringen, dafür zu töten?
Wynn trat durch die Lücke zwischen der Mauer und dem neuen südöstlichen Wohnheim. Weiter hinten befand sich die alte Kaserne mit ihrer Unterkunft.
Wynn schüttelte den Kopf, als sie sich vorstellte, der Mörder könnte jemand aus der Gilde sein. Wenn sich ein Vampir unter ihnen verbarg, hätte sie ihn längst bemerkt. Einmal hatte sie sich von Chane täuschen lassen, aber rückblickend erkannte sie alle Hinweise. Er war immer nach Einbruch der Nacht zu Besuch gekommen, hatte nie etwas gegessen und immer nur Pfefferminztee getrunken. Dann sein blasses Gesicht und die sonderbaren Augen, manchmal braun und bei anderen Gelegenheiten fast farblos.
Ihre Gedanken kehrten zum Geldverleiher und dem jungen Mann zurück, der Elias gedroht hatte. Kamen sie als Täter infrage?
Nein, der Mörder musste ein Untoter sein, noch dazu einer, der tötete, ohne Bissmale zu hinterlassen. Und er konnte nicht zur Gilde gehören.
Wynn ging um die Ecke des Ostturms und sah nicht weit entfernt den rückwärtigen Teil der neuen Bibliothek. Hier gab es mehrere neue Gebäude – nur die Bereiche der vier Türme und die vordere Seite des Schlosses blieben Gärten vorbehalten.
Die zweistöckige Bibliothek erreichte zwar nur zwei Drittel der Höhe des Schlosses, war aber hoch genug, damit man aus den Fenstern des oberen Stocks einen Blick über die Stadt werfen konnte. Sie enthielt die besten, von den Premins und Domins ausgewählten Bücher, die der gesamten Gilde zur Verfügung standen, doch Wynns Interesse hatte immer mehr den Katakomben unter dem Schloss gegolten, dem Hauptarchiv.
Vor ihrem inneren Auge erschienen die bleichen Gesichter von Jeremy und Elias. Sie waren schnell gestorben, aber nicht schnell genug, um kein Entsetzen zu empfinden.
Wynn drehte sich um und kehrte dorthin zurück, woher sie gekommen war.
Der Dieb, der den Folianten aus Meister Shilwises Skriptorium gestohlen hatte … Er war
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