Dhampir: Vergessene Zeit (German Edition)
nicht verlassen habe.«
Die Aussage der Köchin hätte großes Gewicht gehabt, mehr als die von Frau und Kindern. Andererseits: Selwyn Midton konnte jemanden mit der Ermordung der beiden jungen Weisen beauftragt haben. Das war sogar wahrscheinlich, wenn der Täter ein spezielles Gift verwendet hatte. Was wusste dieser Halsabschneider, der seinen Wohlstand Wucherzinsen verdankte, schon von giftigen Substanzen?
Aber woher sollte er wissen, an wen er sich mit einem solchen Auftrag wenden konnte?
Bei seinen Vernehmungen hatte Rodian mit vielen Verbrechern gesprochen, und auch mit Leuten, die unschuldig gewesen waren. Midton war zweifellos ein Schurke, aber Jeremys Tod schien ihn wirklich überrascht zu haben.
»Verlangt bitte keine Aussage von meiner Familie!«, stieß Midton hervor. »Ich schwöre, dass ich nichts mit Jeremys Tod zu tun habe. Wenn auch nur der Hauch eines Verdachts auf mich fällt, bin ich ruiniert. Und nicht nur ich, auch meine Frau, meine Familie … «
»Nach der morgigen Verhandlung seid Ihr ruiniert. Das Strafgeld für illegalen Geldverleih ist hoch – falls sich der Generalanwalt damit begnügt, eine Geldstrafe bei den Richtern zu beantragen. Aber zum Glück für Euch kann ein Gericht nicht aufgrund von Hörensagen ein Urteil sprechen, und Jeremy dürfte wohl kaum imstande sein, gegen Euch auszusagen.«
Midton schien sich ein bisschen zu beruhigen. Er legte beide Hände auf den Schreibtisch und sprach mit gesenkter Stimme.
»Das Gericht wird meine Unschuld feststellen, und niemand hier muss erfahren, dass es überhaupt eine Verhandlung gab. Meine Frau weiß nichts von meinen Geschäften, und ihr Vater ebenfalls nicht.«
Rodian blinzelte. »Eure Frau hat den Laden nie gesehen?«
Midton schüttelte den Kopf. »Nein. Ihre Familie war gegen unsere Heirat, aber meine Frau wollte die Ehe. Wir haben dieses Haus mit ihrer Aussteuer gekauft, und es ist mir gelungen, ihr ein angemessenes Leben zu ermöglichen. Wenn ihr Vater stirbt, bekommt sie sein Vermögen, es sei denn, sie wird enterbt. Wenn sich herumspricht, dass ich angeblich in einen Mordfall verwickelt bin … «
Er presste die Lippen zusammen und sank wieder in den Sessel.
»Ich habe nichts mit Jeremys Tod zu tun«, betonte er noch einmal. »Wenn Ihr in aller Öffentlichkeit gegen mich ermittelt, zerstört Ihr meine Familie … ohne Grund und ohne etwas dadurch zu gewinnen.«
Der Hintergrund dieses Mannes war plötzlich klar. Midton hatte die Liebe einer mürrischen, hässlichen Frau gewonnen, was den Wünschen ihrer Familie widersprach – einer vermögenden Familie. Seitdem hing für Selwyn Midton alles an einem seidenen Faden. Mit Ach und Krach gelang es ihm, einen gehobenen Lebensstandard zu gewährleisten, während er auf die Erbschaft wartete.
Die Verurteilung dieses Mannes würde einen Parasiten treffen, der die Armen und Verzweifelten ausbeutete. Aber zehn andere würden wie Kakerlaken herankrabbeln, um seinen Platz einzunehmen. Und es lag Rodian nichts daran, die Familie der vier im Wohnzimmer spielenden Kinder zu zerstören.
»Ich brauche eine schriftliche Aussage von Eurer Frau, aus der hervorgeht, dass Ihr am fraglichen Abend zu Hause gewesen seid«, sagte er. »Wie viel von der Wahrheit Ihr für diese Aussage preisgebt, bleibt Euch überlassen. Lasst das Schriftstück im Beisein meines Leutnants von Eurer Frau unterschreiben, wenn er morgen zu Euch kommt. Ich spreche mit Eurer Köchin und den Nachbarn. Die gegenwärtige Angelegenheit beim Generalanwalt ist Euer Problem.«
Ob Bauchgefühl oder nicht: Midton hatte noch immer ein Motiv für einen Mord; es war sogar noch stärker, als Rodian angenommen hatte. Der Wunsch, den illegalen Geldverleih geheim zu halten, um das Erbe seiner Frau nicht zu gefährden – das war zweifellos Motiv genug.
»Danke«, sagte Selwyn Midton. Die Erleichterung war ihm deutlich anzusehen.
»Ruft Eure Köchin«, wies Rodian ihn an. »Ich möchte allein mit ihr reden.«
Midton eilte hinaus.
Rodian wusste bereits, dass die Köchin die Aussage des Hausherrn bestätigen würde. Damit blieb nur eine andere Spur, und die verfolgte er nicht gern.
Nach einem spärlichen Mittagessen verließ Wynn den Gemeinschaftsraum, wanderte an der inneren Mauer entlang und kam durch das kleine Arboretum beim Südturm. Hinter der Mauer hörte sie gelegentlich Leute kommen und gehen, aber nicht viele, denn die Alte Mauerstraße war keine Durchgangsstraße.
Als die alte Außenmauer des Schlosses vor langer Zeit
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