Diabolos (German Edition)
auf anderen Fotos schätzte ich sie auf acht, höchstens neun Jahre. Doch auf keinem der Fotos war Joyce älter als neun.
Ein schrecklicher Verdacht keimte in mir auf, was das Kind anbelangte, jedoch wagte ich nicht, meine Befürchtungen in Worte zu fassen.
Elaine nahm mir schließlich diese Bürde ab: »Meine Tochter lebt nicht mehr, Mr. Pierce, wie Sie sich sicher denken können. Diese Fotos sind die einzigen, die von Joyce existieren. Das Album ist der größte Schatz, den ich in diesem Leben noch besitze.«
Vorsichtig schloss ich das Buch und reichte es Elaine zurück. Die Stille des Ortes erschien mir mit einem Schlag als angemessene Umgebung, um mit der Frau über das Schicksal ihrer Tochter zu sprechen.
»Was ist passiert?«, fragte ich und war versucht, abermals ihre Hand zu ergreifen, und sei es nur um ihr die Nähe eines mitfühlenden Menschen zukommen zu lassen. Doch sie verschränkte ihre Hände ineinander und starrte über die Handrücken hinweg auf einen festen Punkt irgendwo neben dem Album. Ich sah ihr an, wie sie nach den richtigen Worten suchte.
»Diese Geschichte habe ich noch nie jemandem erzählt, Mr. Pierce. Aber ich denke, sie könnte wichtig für Sie sein. Und ich bitte Sie, meine Worte gleichzeitig als Warnung zu verstehen.« Sie sah mich ernst an und fuhr erst mit ihrer Erzählung fort, nachdem ich ihr aufmunternd zugenickt hatte. »Als diese Fotos entstanden waren, habe ich mit Joyce in diesem Ort gelebt. Ihr Vater hatte uns einige Jahre nach ihrer Geburt im Stich gelassen und so bezog ich mit meiner Tochter eine kleine Wohnung am Rande des Städtchens. Das alles ist vierunddreißig Jahre her. Joyce war ein so lebenslustiges Mädchen, neugierig und freundlich. Dank ihr kam ich über die Trennung von meinem Mann relativ leicht hinweg. Ihre unbekümmerte Art verzauberte mich täglich aufs Neue.«
Sie verstummte und starrte mit einem seltsamen Glanz in den Augen auf ihre Hände, als wollte sie mit ihren Fingern etwas festhalten, das für sie nicht mehr greifbar war. Ich schwieg und ließ sie mit ihren Gedanken alleine. Dabei dachte ich an meine eigenen Kinder. Schließlich sprach Elaine mit leiser Stimme weiter: »In Ihren Aufzeichnungen, Mr. Pierce, wird dort erwähnt, wie viele Menschen damals der Verbrennung der alten Keeza beiwohnten?«
Ihre Frage traf mich völlig unvorbereitet, und ich breitete hilflos die Hände aus. Ich hätte länger darüber nachdenken müssen, wie der genaue Wortlaut von Marks Bericht war. Ich bezweifelte, dass mir die alte Dame diese Zeit gewährte.
»Vierunddreißig Bewohner aus Arc´s Hill waren in jener Nacht zum Marktplatz gekommen um die Hexe brennen zu sehen. Vierunddreißig! Und diese Zahl zog sich fortan durch die Jahrhunderte.« Elaine sah mich mit verschleiertem Blick an. Ich konnte sehen, wie schwer es ihr fiel, über jene Geschehnisse zu berichten. »Es wird in Ihren Aufzeichnungen sicher nicht erwähnt, denn jener Teil der Legende um die alte Keeza wird oft als das Geschwätz von Trunkenbolden und Waschweibern abgestempelt und tunlichst nicht erwähnt. Doch in jener Nacht, als man Keeza auf dem Scheiterhaufen dem Flammentod übergab, verfluchte die Alte die Bewohner des Ortes und all jene, die ihnen nachfolgen würden.« Ein eisiger Schauer bemächtigte sich meiner, als würde von den düsteren Bergen her ein frostiger Hauch durch den Ort ziehen. »Vierunddreißig, Mr. Pierce. Vierunddreißig Bewohner waren Zeuge des Todes und der Verwünschungen des Weibes. Und fortan – alle vierunddreißig Jahre – kam Keeza zurück.«
Elaines Stimme brach, wurde zu einem unheilvollen, in Furcht geborenem Flüstern. Sie sah mich lange an und focht einen aufwühlenden, inneren Kampf um fortzufahren.
»Keeza kam zurück nach Arc´s Hill, um sich die Kinder des Dorfes zu holen. So, wie man es ihr vor all den Jahren zur Last gelegt hatte.«
Ihr Blick wurde hart und stechend, als sie mich ansah. Ich spürte, wie mir die Sinne schwanden, und es fiel mir schwer, ihren weiteren Worten zu folgen. Mehr als je zuvor überkam mich das beängstigende Gefühl, mich in einem düsteren, verzehrenden Alptraum zu bewegen.
»Als junge Frau hatte ich selbst nie an die alten Legenden geglaubt. Doch vor vierunddreißig Jahren begann es bei mir. In der Nacht wurde ich von schrecklichen Träumen heimgesucht, die an Grauen und Furcht nicht zu überbieten waren. Ich wusste der Legenden, die man sich in der Taverne und der Kirche erzählte und kannte die Angst der Leute, die an
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