Diabolos (German Edition)
sich ein nie geschriener Schrei verfangen hatte.
Ich trat in mehrere der kleinen Läden, die in diesem steinernen Irrgarten abseits der nahen Einkaufsstraßen ein verlorenes, ein halb verwehtes Schattendasein führten, und erkundigte mich nach dem Uhrenmuseum.
Niemand jedoch konnte mir genaue Auskunft geben. Man war sehr bemüht und schickte mich hierhin und dorthin, aber jedes Mal stellte sich selbst die detaillierteste Wegbeschreibung als unzureichend heraus.
Schon wollte ich aufgeben, Judith anrufen, da stand ich plötzlich vor dem Museum und hatte dabei ein merkwürdiges Gefühl von Bestimmung .
Ich hielt nach ihr Ausschau. SIE war nicht da. Ich war enttäuscht. In dem Zimmer mit dem stillgelegten Kamin traf ich auf einen jungen Mann, Typ Kunststudent. Ein Namensschild an seiner Brust wies ihn als Aufsichtspersonal aus. Er war gerade zugange, einer Besuchergruppe – sie trugen alle gelbe Halstücher, um einander nicht aus den Augen zu verlieren – die feinen Unterschiede verschiedener Stand- und Türmchenuhren zu erläutern, ihren Blick auf die feine Handarbeit einer Bodenstanduhr und auf manches feinsinnige Detail einer Stockuhr zu lenken, erklärte ihre verschiedenen Gangdauern, die je nach Mechanik, Federzug und Beschaffenheit der Schnecke von wenigen Stunden bis zu einem Jahr reichten.
Als er gerade dazu ansetzte, seine Zuhörer mit der Besonderheit eines Pendels vertraut zu machen, sprang das Bild des Zimmers um. – Nur den Bruchteil einer Sekunde dauerte es, dass ich, ein vom Regen Überraschter, ein Zeittotschläger, von Schauraum zu Schauraum schlenderte, achtlos vorbei an all den darin gehorteten Kostbarkeiten, und meine Aufmerksamkeit einer Frau widmete, die – ich hätte es damals schwören können und kann es Ihnen heute schwören – kein Namensschild auf der Brust trug.
Wir alle kennen solche Phänomene, ein Déja-vu, das uns für die Dauer eines Lidschlages der Gegenwart enthebt und uns in ein zeitliches Kontinuum einbindet, in dem wir uns frei – scheinbar frei! – vor- und zurückbewegen können. Wir sind wie aus der Schiene der Chronologie gesprungen. Vielleicht empfinden wir einen Moment lang Angst vor diesem diffusen Zustand. Diese Angst ist es wahrscheinlich, die uns herausreißt aus der Zeitlosigkeit, uns wieder in unserer Zeit, dem Reservat aus Jahren, Monaten, Wochen, Tagen, Stunden, Minuten, verankert, uns in die temporäre Realität, in die Wirklichkeit alles Vergänglichen einbindet.
Es waren dieselben Räumlichkeiten, in denen ich mich jetzt wie damals befand. Die Anwesenheit mehrere Besucher war in diesem Zusammenhang unerheblich. Auch die Person des Kunststudenten – unschwer als Aushilfskraft zu erkennen, nicht mehr – war ohne Bedeutung. Aber – da war eine Abweichung zwischen den beiden Bildern …
Sie kennen doch bestimmt, ganz bestimmt kennen Sie diese Bildrätsel in den Zeitungen. Zwei scheinbar identische Bilder, die sich durch eine bestimmte Anzahl von leicht zu übersehenden Fehlern voneinander unterscheiden. Sicher haben Sie schon selbst erlebt, wie verbissen man nach dem letzten Fehler sucht, wie man wieder und immer wieder alle Details der beiden Bilder mit den Augen abtastet nach dieser einen Abweichung, die aufzuspüren unabdingbar ist, um das Rätsel – Rätsel , dass ich nicht lache: ein Rätsel ohne Geheimnis, ein Zeitvertreib , weiter nichts! – als gelöst beiseite zu legen.
»Was war es«, fragte ich.
Lange Zeit wusste er es nicht. Er blickte auf, sah mich an, nein: sein Blick, müde, fiel auf mich wie zufällig, er lächelte. In seinem Lächeln blitzte kurz eine matte Überlegenheit auf, die mir zu verstehen gab, dass ich vorerst mit einer Antwort nicht rechnen dufte.
Es war spät geworden. Die Sperrstunde stand bevor. Auf einmal herrschte hektische Betriebsamkeit unter den Serviererinnen. Die wenigen Gäste hatten ihr Recht, hier zu sein, verwirkt. Das Café leerte sich. Die Serviererinnen warfen ihm, mir, Fremdkörper in diesem Moment, auffordernde Blicke zu, es den anderen gleichzutun.
»Wie ging es weiter?«, fragte ich.
Ich stahl mich davon. Noch bevor der Kunststudent seine Führung beendet hatte, verließ ich das Museum.
Von der ersten Telefonzelle, auf die ich stieß, rief ich Judith an. Sie war sehr aufgeregt. Sie hatte sich Sorgen gemacht und Peter angerufen. Sie wusste bereits alles.
»Wo bist du jetzt?«, fragte sie.
Ich sagte ihr irgendetwas.
Es war eine harte Zeit, hörte ich sie sagen.
Die Telefonverbindung war
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