Diabolos (German Edition)
Äußeren – ihm gerade angeboten hatte.
Lange schwieg er.
Dann richtete er sich plötzlich auf. Und während ich noch der Handbewegung des Mannes folgte, der in seine Tasche griff, ein Handy hervorholte und es ausschaltete zum Zeichen seiner Bereitschaft zur uneingeschränkten Aufmerksamkeit, vernahm ich die vertrauten Worte, deren Sinn sich mir wie in einem diffusen Dämmer, an der Schnittstelle von Erinnerung und Gegenwart, offenbarte: »Als ich eintrat, stand sie vor dem Fenster …«
Schon nach wenigen Sätzen verließ ich hastig das Lokal.
In den nächsten Wochen mied ich den Anblick von Uhren, dem ich mich andererseits kaum zu entziehen vermochte.
Das Verstreichen von Zeit, ihr Vergehen, dessen sie sich schuldig machte mit jedem Vorrücken des Zeigers, flößte mir Angst ein, zuerst die Angst vor einem Rückfall, dann, bald schon eine entsetzliche Angst, deren Wurzeln noch viel tiefer in mich, in mein Leben hinein zu reichen schienen, bis zurück – wie mir immer deutlicher zu Bewusstsein kam – an den Anbeginn der Zeit .
Instinktiv suchte ich die Nähe von Menschen; wie es tollwütige Tiere in die Nähe der Menschen treibt …
Ich flüchtete mich in den Schutz ihrer Anwesenheit.
Nicht genug Menschen konnten es mir sein. Halt versprach ich mir, Verständnis, Beistand, Geborgenheit in meinem kräfteraubenden Kampf gegen den Sog einer Zeit, in die ich mich unaufhörlich tief und tiefer verstrickte, und die sich mir, je willenloser ich mich ihr überließ, zu entziehen schien.
Ich haschte nach ihr, geriet außer Atem. Ich musste mich irgendwo festhalten, um dem Rasen in mir vorübergehend Einhalt zu gebieten. Über mir schlug die Zeit zusammen wie eine brechende Welle und begrub mich unter ihren zerfließenden Trümmern.
Hastig rauchte ich die mir angebotene Zigarette und empfing die Erlösung, da endlich – endlich! – jemand, den Blick voll Sorge, die Stimme voll Mitgefühl, mich aufforderte: »So setz dich doch …«, mir seine Hand, schwer, erdend, auf die Schulter legte: »Jetzt beruhige dich erst einmal und erzähle …«
Und ich richtete mich auf, hochgerissen vom Triumph einer geglückten List. Das Gefühl des Sieges, das sich nach außen hin hinter der Maske der heillosen Verwirrung verbarg, rieselte durch meinen Körper. Meine Haltung straffte sich. Ich hörte meine Stimme. Sie schien sich von weit her durch unzählige Schichten schemenhafter Träume durchzupausen in die Zeit, jene flüchtige Zeit, in der ich mich augenblicklich befand.
Ich sah in das Gesicht meines Gegenübers – mir gehörte es, mir ganz allein! –, und beim ersten Anzeichen von Interesse, das ich dort entdecken konnte, begann ich: »Zwei Jahre meines Lebens verbrachte ich damit, Tag für Tag denselben Ort aufzusuchen …«
Illustration – Jan Hillen
Wie die Lemminge
Torsten Scheib
Verdammt!
Nicht viel, und Haubolds Audi wäre mit der Leitplanke kollidiert. Er reißt das Steuer zur Seite und die Reifen kriegen wieder Asphalt zu fassen.
»Das war knapp«, haucht er.
In seinen Gehörgängen pocht das Blut, sein Herz trommelt gegen den Brustkorb. 02:31 Uhr verraten die grünen Ziffern neben der Tempoanzeige. Gerade eben war es noch 02:29 Uhr gewesen. Wie …?
Natürlich. Sekundenschlaf. Haubold kriegt eine Gänsehaut. Jeder vierte tödliche Unfall wird dadurch verursacht. Er kennt sich damit aus. Der Tod ist eine Art Hobby von ihm.
Nicht viel, und ich wäre der nächste Vierte gewesen …
Die Vorstellung ist schrecklich, seine bleierne Müdigkeit stärker. Da kann er machen, was er will. Wie ein tonnenschwerer Anker zieht die Erschöpfung an ihm. Seine Augen brennen. Die so gut wie leere Autobahn verschwimmt. Jedes Lid scheint mit Beton gefüllt zu sein. Wenn er nicht bald einen Parkplatz ansteuert …
Das Schicksal meint es gut ihm. RASTHOF NAHETAL 3 KM, erkennt er im dreckig-gelben Licht der Scheinwerfer. Nur noch drei Kilometer. Nur?
Die kurze Strecke ist der reinste Spießroutenlauf. Haubold muss sich buchstäblich auf die Zähne beißen. Sein System bettelt förmlich darum, die Pausentaste drücken zu dürfen.
Nicht viel, und er hätte die Ausfahrt verpasst. Im letzten Moment tritt er hart auf die Bremse und lenkt seinen Dienstwagen nach rechts. Unendlich erleichtert steuert er den verwaisten Parkplatz an. Diesem schließt sich die öffentliche Toilette an; ein hässlicher Klotz aus Backsteinen und fehlender Hygiene. Übervolle Mülleimer und ein paar Bänke säumen den Bereich. Weiter vorne
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