Diagnose zur Daemmerung
Nächten erzählen. Andererseits war es mitten am Tag, und in meiner Handtasche befand sich sowieso nichts Stehlenswertes.
Wachsam beugte ich mich zum Wagenfenster hinunter. »Ich will nur zur Klinik, die liegt doch in dieser Richtung, oder?«
»Ja, einfach die Straße rauf. Grüßen Sie Hector von mir!« Er nickte mir zu, drehte die Musik wieder auf, lenkte das Auto auf die Straße hinaus und näherte sich dem nächsten Fußgänger, um ihm eine Fahrt anzubieten.
Nur ein inoffizielles Taxi ohne Lizenz. Ich entspannte mich etwas, ging aber zügig weiter. Vor einem Schnapsladen an einer Ecke standen einige Männer herum, aber so weit musste ich gar nicht gehen. Denn jetzt erblickte ich auch die Klinik; der Name war in großen Lettern an der Mauer angebracht, einzelne Buchstaben, die abgefallen waren, hatte man einfach aufgemalt. Mir wurde klar, dass ich auf dieselbe Fassade blickte, die ich auch im Computer gesehen hatte – aber da war kein Wandgemälde mehr, nur gräulich weiße Farbe, die noch nicht von der Sommersonne ausgebleicht war. Santa Muerte war verschwunden.
Was bedeutete das wohl für mich?
Einen Moment lang blieb ich reglos stehen und überlegte: War dieses Gespräch jetzt pure Zeitverschwendung, oder nicht? Vor der Kliniktür stand ein vielleicht zwölfjähriger Junge, der plötzlich in meine Richtung kam. Mit zusammengekniffenen Augen musterte er mich abschätzend, dann schnalzte er mit der Zunge und schüttelte den Kopf. »Sie haben schlimmes susto , Lady. Da drin können die Ihnen nicht helfen. Sie müssen mitkommen, zu meinem Großvater.«
Unwillkürlich zog ich eine Augenbraue hoch. »Mir geht es prima, danke.«
»Sind Sie sicher? Alles farsantes da drin. Mein Großvater ist ein curandero «, schwatzte er selbstsicher weiter, während er mit mir zur Eingangstür ging. Seine Hose war etwas zu kurz, und auf seinem T-Shirt prangte das Logo einer Marke, die ich nicht kannte.
»Ja, ich bin mir sicher. Trotzdem danke. Ich weiß deine Sorge zu schätzen.« Ich schob mich an ihm vorbei und öffnete die Tür.
»Nicht in den Mund stecken, mija !«, schimpfte drinnen eine Mutter mit ihrem Kind. In einer Ecke befand sich eine hustende ältere Frau, die mit einer Hand die Perlen eines Rosenkranzes abarbeitete. Eine schwangere Frau saß still da und hatte eine Hand auf ihren prallen Bauch gelegt, eine andere schob einen Kinderwagen herum, in dem ein Baby schlief. Und zwei Männer waren in eine Diskussion vertieft; der eine hatte keine Zähne mehr, der andere eine gigantisch angeschwollene Hand.
Die Leute hier waren vollkommen anders als ich – das hatte ich auch begreifen müssen, als ich es auf Y4 mit Vampiren, Tageslichtagenten und lizenzierten Spendern zu tun gehabt hatte –, aber sie waren Patienten. Und plötzlich wusste ich wieder, wo ich mich befand – ich war zu Hause.
An den Wänden des Warteraums waren unbequeme Plastikstühle aufgereiht, der Großteil der Klinik lag aber hinter einer dicken Kunststoffwand. Ich stellte mich am nächstgelegenen Fensterchen vor, und eine Frau mit kurzen schwarzen Haaren und kaffeebrauner Haut befahl mir zu warten, bis Dr. Tovar Zeit für mich hatte.
Kapitel 4
»Miss Spence?«, rief jemand durch eine Seitentür. Lächelnd stand ich auf und ging zu der Frau in rosa OP-Kleidung, die mir die Tür aufhielt. Sie musterte mich von oben bis unten, dann schnaubte sie abfällig, ließ mich aber trotzdem durch. »Dr. Tovar erwartet Sie.«
Der Flur, durch den wir gingen, war mit lehrreichen Medizinpostern auf Englisch und Spanisch geschmückt. Mein Spanischwortschatz ließ sich an einer Hand abzählen: Ich wusste, dass corazon »Herz« bedeutete, sangre war »Blut« und dolor hieß »Schmerz«. Ansonsten konnte ich ganz gut raten und hatte früher auch regelmäßig die Übersetzerhotline angerufen, falls es bei einem Patienten nötig wurde. Die Frau klopfte an eine geschlossene Tür, und als von drinnen eine Antwort kam, öffnete sie und trat beiseite.
Dr. Tovar hatte meinen Lebenslauf in der Hand. Er war umwerfend: gebräunte Haut, schwarzes Haar, kantige Kieferpartie und breite Schultern in einem Tweedjackett. Plötzlich wünschte ich mir, ich hätte mich etwas mehr aufgestylt, doch dann fiel mir wieder ein, dass er ja Arzt war.
Ärzte waren für jede Krankenschwester ein absolutes No-Go. Weil man sich so oft mit ihnen anlegen muss, fallen sie durch das Raster. Denn Krankenhäuser waren eine Art Kriegsgebiet: Krankenschwestern vorne an der Front und Ärzte
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